KAPITEL 2

›Brocken‹


Der Frühling war fast zeitgleich mit mir in Kopenhagen angekommen, Vesterbro roch wieder nach etwas, und mit jeder Stunde traten neue Witterungen hinzu. Auf den Dachrinnen entlang der Flaskegade schimpften die Raben wie die Rohrspatzen über die übrigen Vögel, die aus wärmeren Gegenden herangezogen waren, wie auch immer ihnen das gelungen war, mit ihren kleinen Köpfen.

Meine Rückreise war mir leicht gefallen, vielleicht, weil sich Wiederkehren ein wenig anfühlt, wie eine Treppe herabzusteigen. Es drückte dennoch etwas in meinem Kopf herum, beim ersten Schluck des abgründigen „Stempelkande“-Kaffees, der mehr Assimilation als Überzeugung war, überschlug ich, seit guten 72 Stunden nichts anderes als Bier getrunken zu haben. Wenn man von zwei Fläschchen Jägermeister absehen wollte. Die waren irgendwann gegen halb vier am Morgen im überfüllten Gang meines Wagons und mit Julia einfach geschehen.



Die wiederrum war, wenn ich es richtig erinnere, von Dresden nach München gereist, um dort einen jungen Mann mit dem bescheuerten Namen Gustav zu treffen, der irgendwelche Dinge mit Gebrauchtwagen anstellte. Das alles hatte etwas mit großzügigen „Tinder-Radien“ zu tun, aber davon verstand ich nicht viel. Ich schätzte, dass mein „Tinder-Radius“ bei etwa 2 Metern liegen müsse. Denn aus langer Erfahrung wusste ich gut, dass ich nur dann überhaupt Aussicht auf sexuelle Gesellschaft hatte, wenn sich meine Zielperson nahe genug befand, dass ich sie mit viel Umstand nachgiebig faseln konnte.

Mag schon sein, dass ich genau diese Hoffnung gehegt hatte, als Julia, die wie viele der jungen Mitreisenden auf einer Zeitung im engen Korridor saß, mir mit dieser schönen, unvollendeten Aufforderung einen kleinen Platz anbot: „Setz Dich zu mir, dann...“. Da ich von der Bordtoilette und entsprechend entspannt zurückkehrte, hielt ich es für vertretbar, herauszufinden, was dieses „dann“ denn in Aussicht stellen sollte. Julia hatte enorme Brüste und schöne irrlichternde Augen, die oft in den Schein von Diskokugeln geblickt haben mussten – das alles machte mich zum geduldigen Zuhörer. 



Jedenfalls schien alles nicht allzu gut gewesen zu sein, zwischen Julia und Gustav. Nach der ersten Jäger-Miniatur hatte meine nächtliche Gefährtin mit einem schlimmen Monolog begonnen, der immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück zu springen schien. Ich beherrschte ihn deshalb bereits gegen 5 Uhr morgens auswendig, und ich will das Gesagte gerne teilen, um nicht allein damit zu sein:



„Es tut halt einfach weh. Immer und überall. Oben und unten. Egal, ob ich daran denke, oder nicht. Denn wenn ich dran denke ist der Schmerz wie ein ständiger Begleiter, der nicht von meiner Seite weicht. Und wenn ich nicht meine, nicht daran zu denken, dann fällt mir auf einmal auf, dass es doch die ganze Zeit da war. Unbemerkt. So selbstverständlich ist dieser Schmerz inzwischen ein Teil von mir, als Wesen geworden.“

Ich hatte, so lange es nur ging, brav zu dieser Endlosschleife genickt, aber nicht verhindern können, dass meine Augäpfel schließlich übermüdet aus den Höhlen quollen - und dabei, ganz ohne Absicht, auf dem raumgreifenden Brustkorb meines Gegenübers zur Ruhe kamen. Zu lange wohl, denn Julia leitete bald zu einer vernichtenden Coda über, mit folgenden fragenden Einsichten: 



„Warum kann der Mann nicht wissen, was Frauen wollen? Und warum wissen Frauen, dass Männer genau das nicht wissen?“

Ein größerer Mann als ich hätte vielleicht die Kraft zu einer großmütigen Antwort gehabt. Und ich hätte wirklich gerne von Hans Weil und den merkwürdigen Stunden des vorangegangenen Tages berichtet. Aber es wäre ein Steinwurf in einen ausgetrockneten See gewesen. Ich drückte in aller Aufrichtigkeit Julias Hand, gab zu, auch nicht viel zu wissen, und war froh, aufzustehen, mein Hintern schmerzte und fühlte sich kalt an. Ich wünschte, ich hätte ihm nie Beachtung geschenkt...

Von meinem südseitigen Fenster in der Flaskegade gibt es einiges zu sehen. Zu nennen wären der heimische Carlsberg Supermarkt, und gleich daneben die harsche deutsche Antwort in Form eines „Netto Discounters“. Beide stehen da, wo sich die Hauptstränge der Bahnschienen zum „Hovedbanegård“ in großzügigen Bögen trennen.

Dahinter liegt der „Vestre Kirkegaard“, glücklicherweise geben die beiden Billigmärkte mit ihren flachen Dächern den Blick auf große Teile des Friedhofs frei. Auch hierhin war das Leben zurückgekehrt, die Bäume und Sträucher der Totenstadt blühten, als habe der Leichensaft ihnen wundersame Kräfte verliehen.

Es ist übrigens ein beliebtes Missverständis, dass der Name „Vestre Kirkegaard“ sich dem düsteren Glaubenskrieger Søren Kierkegaard verdanken würde. Kenner des Philosophen wissen natürlich, dass der ein weiteres „E“ beansprucht“. Wie auch Kenner der dänischen Sprache wissen, dass „Kirkegaard“, ohne zusätzliches „E“, schlicht „Kirchgarten“ und also „Friedhof“ bedeutet. Aber ich beherrschte auch nach einem knappen Jahr in der Flaskegade praktisch kein Wort in der Sprache der Eingeborenen.

Deshalb war ich auch versöhnt damit, selbst einen ganzen Tag zwischen den Steinen und Kreuzen herumgeirrt zu sein, auf der Suche nach der Grablege des dänischen Nationalheiligtums, das mir nicht viel bedeutete. Ich hatte aber, so lang ich denken konnte, immer schon ein etwas irrationales Verhältnis zu Friedhöfen gehabt. Und zu den Menschen, die dort liegen. 



So erinnere ich mich, vor gar nicht allzu langer Zeit, auf dem Matthäuskirchhof in Berlin-Kreuzhof auf der Suche nach der letzten Ruhestatt eines gewissen Christian Franz Klusacek gewesen zu sein, der sich für ein besseres Vorwärtskommen in den seichteren Gefilden der Musik den geschmeidigen Namen "Chris Roberts" zulegen sollte. Ein schlichtes Grab fand ich, ganz ohne Marmoreinfassung, nur ein Oval aus Stein geformt mit einem Holzkreuz darauf. Klusacek (oder Roberts) stammte eigentlich aus München, und dort, natürlich, aus Schwabing. Oder besser: aus „Wahnmoching“, wie es die „von Reventlow“ mal gefasst hatte, die wilde Gräfin, in die ich über alle Zeiten hinweg ein bisschen unsterblich verliebt war.

Der Schlagerbarde liegt, für alle, die meinen Wegen folgen möchten, ganz in der Nähe von Rio Reiser begraben, der nun seinerseits eigentlich Ralph Christian Möbius hieß, und gegenüber eines gewissen Ovo Maltine, gebürtig Christoph Josten. Der, hier half mir Wikipedia, war als queerer Aktivist Teil des Kollektivs „Schwestern der perpetuellen Indulgenz“ gewesen, und, passend und tragisch, an der etwas redundanten Mischung aus Aids und Lymphdrüsenkrebs gestorben.

Ich hatte Chris Roberts viele Jahre zuvor in München persönlich kennengelernt, obwohl uns rein ästhetisch eigentlich mehr als nur ein großer Schritt trennten. Ich freute mich deshalb, zwischen dem überbordenden Blumenschmuck eine in Plastik verschweißte Beileidskarte zu entdecken mit den Worten „Du wirst für immer in meinem Herzen bleiben“. In den Grabstein selbst hatte jemand völlig anderes in eckigen Buchstaben „Hagen ist der coolste Boy in Town“ geritzt. Gut für ihn, dachte ich.



Zeit für eine Zigarette, jetzt, die Gedanken eindampfen.

Die Kiste mit Hans Weills Nachlass stand in der Flaskegade immer noch vorwurfsvoll auf dem Küchentisch, während der Rauch durch das offene Fenster huschte. Immerhin zwei Entscheidungen hatte ich aus bodenloser Müdigkeit heraus getroffen. Die erste betraf Hans‘ literarisches Relikt.

Für eine posthume Veröffentlichung war der Roman in keinem guten Zustand, die Lücken einfach zu groß, der Text faserte in alle erdenklichen Richtungen aus. Und wenn ich nun schon erwählt worden war, Hans Weils Leben endgültig abzuhandeln, dann musste es wohl auch meine Pflicht sein, diesen Teil seines kläglichen Nachlasses entweder zu vernichten – oder aber so weit zu treiben, das seinem Sinn und Wille Genüge getan sein würde. Oder auch einfach: seinen Roman zu vollenden.

Ich persönlich sehe es ja so: was uns, als Menschen, um- und antreibt ist nicht Erfüllung im engeren Sinne. Denn den Menschen füllt nichts. Unser Tun und Handeln ist nichts weiter als eine Verpflichtung gegenüber der Möglichkeit. Was wir erleben, gleitet durch uns durch wie ein Zug durch einen still gelegten Bahnhof. Das aber, was wir nicht erleben, nicht tun, das ist es, was uns ewig bleibt. Das Ungenutzte ist das Einzige, was sich über die Zeit erhebt.

Unser Antrieb ist also nicht die Suche nach Erfüllung, sondern nur die nackte Angst davor, „nicht getan zu haben“. Wie Pac Man auf seinem Weg durch das immer gleiche Labyrinth fressen wir die Welt leer, gejagt von Gespenstern.

Ja, bitte, natürlich, das kann man jetzt alles sehr kompliziert finden. Oder sehr profan. Ich will es aber verdeutlichen: wenn Sie – und ich hoffe, es ist in diesem intimen Zusammenhang in Ordnung, wenn ich Sie direkt anspreche – wenn also Sie das nächste Mal einen Orgasmus haben sollten, nehmen Sie sich einen kurzen Moment Zeit und denken sie nach. Und dieser Moment wird zwangsläufig kurz sein, denn ein Orgasmus ist es auch. Und dann fragen Sie sich mal, ob es das wert war.

Der ganze Aufwand.

Und, Sie wissen das sicher, selbst in einer gut geölten Beischlafroutine ist der ganze Akt mit Vor- und Nachbereitung aufwendig, einfach ziemlich kraft- und zeitraubend.

Und das alles für ein einziges, winziges, verwirrendes Ziehen, eine kurze, blitzende Ohnmacht, nach der Sie verwirrt zurückbleiben, ohne Plan, wie es denn nun weitergehen soll. Ein bisschen wie ein Schlaganfall, nur nicht schmerzhaft, und folgenlos, es sei denn, man zeugt beiläufig ein Kind, was passieren kann. Mehr aber nicht. Und dieses kurze Zucken soll es also gewesen sein, warum die Menschen darauf gekommen sind, sich aufeinander zu legen?



Sie werden jetzt sicher sagen, dass da ein urtümlicher Instinkt am Werk gewesen sein muss, ein gutes Argument, sicher. Aber welcher Instinkt soll die Menschen dazu gebracht haben, ihr Fleisch zu braten, statt es roh hinunterzuschlingen? Oder denken Sie erstmal an das Feuer und das Rad und die Malerei und die Musik, vor allem die Musik, welcher Instinkt soll denn bitte zu solchem Wahnsinn führen?

Oder sehen Sie es so: wenn die Natur sie so gut eingerichtet hätte, die Sache mit dem Sex, warum gibt es dann Pornos für lustlose Pandas?

Und warum, das frage ich Sie, haben dann nicht alle männlichen Lebewesen, entschuldigen Sie, Entenpimmel, wie Korkenzieher geformt, damit man es sich nicht mittendrin anders überlegen kann? 



Oder sehen Sie es so: mit 12 Jahren habe ich zum ersten Mal Spargel heruntergewürgt, weil er angeblich aphrodisierend wirken soll, ich hatte eigentlich keine Ahnung, aber: wieso soll gerade so ein blasses, fades Wurzelgemüse in die Höhen der Wollust führen, statt eines naheliegenden Suchtstoffes, sagen wir, ein Schokoladen-Fondue



Ist Sex also nicht einfach Masturbation an einem Menschen, als würde man ein Häkchen setzen an den Körperöffnungen und -auswölbungen der Anderen?



Glauben Sie mir, am Ende hat das ganze Getöse um Beischlaf, Liebe machen, Sex und Ficken nur einen einzigen Grund: damit wir es am Ende nicht nicht gemacht haben.

Der kleine Knallfrosch im Kopf, mit dem wir dann am Ende abgespeist werden, ist dabei nur das kurze Klacken einer Stechuhr.

Und wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind, dann verstehen Sie sicher, warum ich Hans Weills Rumpfroman nicht unangetastet lassen konnte.

Zeit für eine Zigarette, um nicht tiefer zu fallen, als man fliegen kann.

Ich schreibe immer direkt am Computer, weil ich nicht blöd bin, und an einem PC, weil ich kein prätentiöses Arschloch sein will. Das asthmatische Rauschen der Kühlung erinnerte mich kurz daran, das ich immer noch beim Schreiben rauchte wie ein Schlot, und nicht nur meine Lunge, sondern auch meine ganze unbelebte Umwelt damit fahrlässig asphaltierte.

Immerhin kamen meine Texte so schneller voran. Und auch an diesem Mai-Morgen stampften die Finger unter Volldampf erstaunlich zügig über die Tastatur, hinein in eine Geschichte, die ich nur geliehen hatte. Was ich über sieben Zigarettenlängen zusammenbrachte, war das Folgende:





 
Es tropfte. Ein Tropfen und ein zweiter, ein dritter, tropf, tropf, tropf, ein Uhrwerk von Dali’s Gnaden, bis das Tropfen zum ununterbrochenen Fließen wurde, und schuld war nur die Sonne. Bananeneis und Schokostreusel und Schokosoße machten erst einmal Gustav Sonderburgs Hände klebrig. Dann liefen sie vereint die Unterarme entlang und ließen sich auf den halbtoten Frosch herunterfallen, der noch ein zittriges Bein hob und senkte, aber die obere Kante des Rinnsteins einfach nicht erreichen konnte, Schuld, auch hier, nur die Sonne. Süß, salzig, fischig, feucht der ganze Tag, eine einzige Unreinheit, die noch schwere Folgen haben sollte.

Wie es die klare Arbeitsteilung zwischen ihnen beiden vorsah, dachte Hagen Tronnegger nach, über Gestern, den Tag vor heute, den Blick auf den erbärmlichen Fortgang von Sonderburgs Zwischenmahlzeit gerichtet. Riobamba war bisher der ohne jeden Zweifel tiefste Punkt der Durststrecke gewesen, die schon in Feuerland ihren Anfang genommen hatte, und viel zu lange dauerte. 



In nichts zu vergleichen war das mit den Honigtöpfen zwischen Ko Samui und Angkor, die sie so gut über den Winter und schließlich auch mit angenehm wenigen Zwischenstopps nach Punta Arenas gebracht hatten. Ein regelrechter Supermarkt war das gewesen dort drüben, überall Plastiktüten, in denen die schwitzenden Instagram-Hippies ihre Wertsachen durch die Gegend trugen, alle gleich, Tüten wie Menschen. Wie leicht da Dinge fortkommen konnten, und wenn es doch jemand merkte „Whoops, sorry, Mann, dachte, das wäre meine“, und schon ging es weiter im Strom, mit all den angehenden Personalerinnen und Unternehmensberatern auf ihrem Weg durch die durchdeklinierte Idylle, auf Selbstsuche, vor allem aber zum Fotografieren und Ficken da. 



Aber gestern, am Tag vor heute, nicht mehr als eine Tasche von „Freitag“, schmale Beute, das Tragebehältnis selbst mehr wert als ihr Inhalt, ein Damenslip mit viel Spitze und wenig Stoff. Immerhin hatte Sonderburg sich darüber gefreut. 




Und dann hatte Tronnegger auch noch, und nicht zum ersten Mal, seit sie südamerikanisches Festland erreicht hatten, nicht gut geträumt, nämlich davon, ohne Reisepass durch einen überfüllten Flughafen zu irren, stundenlang, während die Ansagen in immer kürzeren Abständen seinen Namen durch die Hallen jagten. Er war aufgewacht und nicht wieder eingeschlafen.


 

Tronnegger wandte die müden Augen von dem bunt bekleckerten Frosch ab, der nicht mehr zuckte, und blickte nach vorne, in die traurigen Augen eines alten Mannes, dunkel gegerbt, Schuld auch hier die Sonne, das Gesicht ein aufgefaltetes Gebirge, darüber glänzendes graues Haar wie Wolken voller Schnee. Der Alte sah Tronnegger vom gegenüber liegenden Bürgersteig aus an, als sei er nach Jahren der Stille und Taubheit erwacht, und das mochte stimmen. Denn der Alte saß, obwohl gleich an der lärmenden Straße, die am „Mercado Guamote“ vorbeiführte, in einem hohen Ohrensessel, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, dem man den Geruch vieler Lektüren ansehen konnte. 



Das schöne, rätselhafte Bild zerbrach sofort, an einer rauen Stimme, die nach üppigem Alkoholkonsum und Tabak klang, nah an Tronneggers unvorbereitetem Ohr, „Final stop, amigo“, dazu eine grobe Hand auf der Schulter, etwas zu fest für Freundlichkeit. „I hope you got what I need, it’s your turn, you know.“

 

Sonderburg nickte nur und besudelte sich unbeeindruckt weiter, während sich der lange, breite Körper zwischen ihn und Tronnegger auf die Stufen vor der Markthalle quetschte. Es dauerte ein paar Momente.

Die erste Erinnerung, die sich einstellte, hatte mit dem vorangegangenen Abend und Kokain zu tun, und einer erstaunlichen Theorie über die Liga der mexikanischen Wrestler, die angeblich die Weltherrschaft anstrebten. Der grobe Mensch, der nun neben Tronnegger saß, hatte sie vorgebracht und mit Vehemenz verteidigt. 



Es folgte die Wiederherstellung der Nationalität – Norwegen, da war sich Tronnegger sicher – und dann tauchte sogar ein Name wieder auf, Björn, und schließlich, unglücklich, die Erinnerung daran, weder für Bier noch Koks bezahlt zu haben, und an das Versprechen, das alles heute, am Tag nach Gestern, wieder gut zu machen. Man würde verhandeln müssen.

Björn, der Riese, hatte es allerdings nicht eilig, denn an eine Flucht war kaum zu denken, schon gar nicht mit dem verklebten, fetten Sonderburg an der Seite, das wusste Tronnegger, das wusste Björn, nur Sonderburg selbst wusste von all dem wenig.

„I had a weird dream, you know“, dröhnte es aus dem großen, weißblonden Kopf mit seinen großen, weißen Zähnen. Und so begann Björn zu erzählen, in diesem unverkennbaren skandinavischen Sing Sang, ohne auch nur für einen Moment nach Worten zu suchen oder sich in der Grammatik zu verirren. Gut waren die, die Skandinavier, mit ihren Sprachen. 

Tronnegger dachte ohne Umschweife an die eleganten Mafiosi aus den Filmen, die so gern langwierige und lehrreiche Geschichten erzählten, bevor sie begannen, Finger zu brechen oder Hälse abzuschnüren. 

Immerhin war Björns Traum unterhaltsamer gewesen als Tronneggers eigener. Es hatte etwas mit Aliens zu tun, die auf der Erde landeten, inmitten einer belebten Straßenkreuzung, und zum Klang der Autohupen zu tanzen begannen – „It sounded like disco to their ears, you know, they were, like, from a disco planet or something“ – und das Hupen sollte immer lauter werden und die Ausserirdischen immer leidenschaftlicher tanzen und dass alles sollte Björn am Ende aufwecken und sich erinnern lassen, dass es da zwei Fremde gab, die ihm etwas schuldig waren.“ Schluss mit Disco. 





Zeit für eine Zigarette, mehr nicht.

Ich beschloss rauchend, meine durchwachsene Arbeit mit einem Blick in Weils Kiste zu unterbrechen. Denn dies war die zweite gewichtige Entscheidung nach meiner Rückkehr aus Kaltland gewesen: ich wollte das Rätsel um die merkwürdige Briefsammlung lösen, an der offensichtlich auch mein Freund lange herumgearbeitet hatte. Es war naheliegend, erst einmal mit den Ausschachtungsarbeiten zu beginnen: merkwürdig beschämt aber auch von Abenteuergeist beseelt schrieb ich die Worte „Gisela Brenner“ in die Suchmaske. Und klickte sofort auf den ersten Treffer, der mich nach Tampa, Florida, ausserdem zur Lokalzeitung „Senior Voice America“ und am Ende auf eine ganz und gar wundersame Reise führen würde.



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