KAPITEL 5-8



KAPITEL 5

„Wie oft wird man 24?“ rief G in die ausgelassene Runde. „Nur einmal!“ schallte es aus ein Dutzend Mündern zurück. Begleitet wurde dieser Ruf mit erhobenen Händen, klirrenden Gläsern und lautem Kreischen aus der Ecke, in der E stand. Jens, der heute den DJ spielte drehte die Anlage noch ein wenig lauter. G hatte sie alle eingeladen, alle die ihr wichtig waren drängten sich in ihrem 28 Quadratmeter großen Apartment, um mit ihr ihren 24 Geburtstag zu feiern.

Ihren „ersten richtigen“ wie sie nicht müde wurde zu betonen. Nicht, dass die anderen Geburtstage weniger gefeiert wurden, aber es war der erste in den eigenen vier Wänden. Vor drei Monaten war sie bei ihren Eltern ausgezogen, nach langer Suche und viel Hin und Her. M, ihr sechs Jahre jüngerer Bruder, war sich bis zum Tag ihres Auszugs sicher: „Du bleibst eh hier. Du findest in München nichts, was du dir leisten kannst. Und überhaupt - du glaubst doch nicht, dass dich einer mit deinem Gehaltsnachweis nimmt.“ Hier hatte er einen wunden Punkt getroffen - G hatte keinen Gehaltsnachweis. Sie konnte nichts vorweisen. Letztes Jahr hatte sie ihren Bachelor in Medienwissenschaften abgeschlossen. In ihrer Vita fand sich der obligatorischen Auslandsaufenthalt - „das macht sich immer gut - glaub mir“ hatte ihr ihr Tutor geraten - und drei Praktika bei halbwegs nennenswerten PR-Agenturen - aber einen festen Job hatte sie seitdem nicht finden können.
„Vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Unternehmen, wir müssen Ihnen jedoch leider mitteilen…“. Emails die so begannen endeten meist mit: „Lassen Sie sich nicht entmutigen. Wir wünschen Ihnen viel Glück auf Ihrem weiteren Berufsweg.“ „Verdammte Textbausteine“ fluchte sie jedes Mal leise vor sich hin bevor sie die Mail in den Ordner „Absagen“ schob. Noch schlimmer war, dass sie in einem ihrer Praktika genau daran gearbeitet hatte: Textbausteine für Bewerberabsagen. „Wir sollten die mal wieder überarbeiten. Ich habe gelesen, dass es wichtig ist eine Absage positiv abzuschließen. Haben wir das?“ fragte ihr damaliger Teamleiter der Unternehmenskommunikation in die Runde. Nachdem keiner am Tisch die Frage zufriedenstellend beantworten konnte und sich auch keiner der Fachbereiche interessiert zeigte, diese Aufgabe wirklich ernsthaft anzugehen fiel der Blick des Teamleiters auf G. „Na das ist doch mal was für unsere Praktikantin. Medienkommunikation studierst du - richtig? Dann ist das das Thema bei dir eindeutig richtig aufgehoben.“ Drei Monate feilte G an den verschiedenen Aussagen. Es gab weniger gefühlvolle Absagen für Praktikanten und Trainees, etwas ausführlichere für „echte“ Mitarbeiter und dann noch ein größeres Paket für Führungskräfte. G fand für jeden Bereich etwas und schaffte es sogar, ihren Teamleiter davon zu überzeugen, dass gerade die Berufsanfänger besonders sensibel behandelt werden sollten. Deshalb ärgerte es sie umso mehr, wenn sie nun Absagen von Personalabteilungen bekam, die zwar das Problem erkannt hatten, es aber sehr bruchstückhaft, ohne individuelle Note aus wahrscheinlich irgendwelchen Wordvorlagen lustlos zusammenkopierten.

Drei Praktika unterschiedlicher Güte, in den Augen G`s passable Zeugnisse, einen Bachelorschnitt von 1.9, Auslandsaufenthalt, und trotzdem stand hinter all dem nur ein nüchternes und niederschmetterndes Ergebnis: Kein Job, kein geregeltes Einkommen, keine Aussicht auf eine Wohnung. Am Ende half G`s Vater mit einer Bürgschaft aus. Diese erwies sich schnell als sehr nützlich und bei manchem Vermieter als wahrer Türöffner. „Wie ich der Bürgschaft entnehme, ist Ihr Vater im Vorstand der Landesbank. Stimmt das?“ „Ja“. G ärgerte sich jedes Mal über die Frage und die nichtanwendbare Antwort. Als ob das Geld eines Bäckers oder Fliesenlegers einen anderen Wert gehabt hätte. Es ging doch nur um den Nachweis, dass im Falle eines Falles jemand dafür geradesteht. „Wieso - ist das ein Problem? Stimmt damit etwas nicht?“ „Nein. Alles gut - im Gegenteil.“ Die Makler und Vermieter waren zufrieden, ihr Vater war es - warum sie nicht? „Hey Prinzessin - was ist los? Was schaust du so verträumt in dein Glas? Ist es leer?“ E`s Stimme war selbst durch die dröhnende Musik und die Gespräche der anderen Gäste aus fünf Meter Entfernung nicht zu überhören. G hob den Kopf, versuchte ein ungezwungenes Lächeln, hob das Glas und konnte durch den unteren Rand, des durch viele Spülgänge langsam milchigen Bodens, erkennen, dass ihr Glas tatsächlich leer war. Sie nuschelte ein leichtes „Ja. Sieht so aus.“ als Antwort. Als sie bemerkte, dass E anscheinend noch immer auf eine Antwort von ihr wartete, schob sie ein lautes und bestimmtes „Ja. Kannst du das ändern?“ hinterher. E winkte mit der Weinflasche zurück und hob die linke Augenbraue, was in ihrem Verständnis eine klare Aufforderung war, zu ihr zu kommen. Da G nicht gleich reagierte, und E zu den Menschen gehörte, die nur wenig Widerspruch erlauben, unterstrich sie ihren Wunsch mit einem lauten „Hallo! Bitte kommen.“

Eine der zahllosen Regeln von E hieß: „Ist das Glas voll, muss man wissen warum.“ Was zwangsläufig dazu führte über den Abend verteilt auf unterschiedlichste Umstände, Gegebenheiten, Freunde oder - je weiter die Stunde fortgeschritten war - auch ganz profane Gegenstände sich gegenseitig zuzuprosten. Die Einhaltung der Regel war oberste Pflicht. So konnte es vorkommen, dass ein Bücherschrank, ein Fernseher aber auch ein Kerzenständer - „Seht wie gerade und standhaft er seine Arbeit verrichtet. Ist das nicht ein Grund zur gemeinsamen Freude?“ - die Ehre zuteil wurde, einen Toast aus E`s Mund zu erhalten. Heute beließ sie es beim ausgerufenen Motto des Tages. Sie hob das Glas wie ein Zeremonienmeister, holte übertrieben Luft und schmetterte ein weiteres „Wie oft wird man 24?“ in den Raum. Doch diesmal gab es keine kollektive Antwort. Nur ein kurzes klares, leicht flirrendes, hohes Geräusch - und dann einen dumpfen Knall. Schlagartig war es leise und dunkel.

Ein paar Gäste kreischten hoch und schrill und nach einem Moment der Besinnung rief jemand aus dem Dunkel. „G, hast du deine Stromrechnung nicht bezahlt?“ G hing dieser Frage für einen kurzen Moment nach, um sie im nächsten als unsinnig einzustufen. „Quatsch. Das wird die Sicherung sein. Moment. Keiner bewegt sich.“ Natürlich hatte diese Aufforderung genau das Gegenteil bewirkt. Hatten die Gäste bisher aus Reflex und Überraschung steif in ihrer Position verharrt, entspannten sie sich nun und jeder versuchte, den Raum vor sich genauer zu erkunden. Das hatte zur Folge, dass alle gleichzeitig in Bewegung kamen. Jemand rief: „Hey wem gehört die Hand auf meinem Hintern?“ Und aus einer anderen Richtung des Raums antwortete jemand: „Mir.“ Aus einem für G unerfindlichen Grund fanden ihre Gäste das so unwahrscheinlich komisch, dass in kürzester Zeit die kleine Wohnung gänzlich mit Gelächter angefüllt war. In eine Atempause rief G in den Raum: „Hat jemand ein Feuerzeug oder Streichholz?“ „Ja. Moment.“ Jens kramte hörbar umständlich in seinen Taschen und fand schließlich ein Feuerzeug, welches er triumphierend mit seiner ausgestreckten Hand über seinen Kopf hob und mit einem kurzen Klicken anzündete. Der flackernde Schein der Flamme gab Orientierung.

Die Gäste bewegten sich vorsichtig aus ihren Ecken und Winkeln und versammelten sich in der Mitte des Raums. G übernahm das Feuerzeug und fand in der dritten von drei möglichen Küchenschubladen ein paar Teelichter, die sie an verschiedenen Stellen im Zimmer verteilte. „So. Jetzt sehen wir wieder etwas. Ich schau mal, wo der Sicherungskasten ist. Ich glaube, neben der Tür.“ Einer der Gäste sagte: „Ja hier, hinter der Garderobe ist er. - Achtung!“ Und mit dem letzten Wort umfasste er alle Jacken wie ein Ringer, hob sie geschickt von ihren Haken und blieb - sie umklammernd - stehen. „Wird ja nicht so lange dauern. Oder?“. „Danke“ sagte G verblüfft und gleichzeitig erfreut über so viel Pragmatismus und öffnete den Sicherungskasten. Was dann geschah, kann sich G nur aus den Erzählungen ihrer Gäste erschließen. Sie selbst hat keine Erinnerung mehr - nur einen leicht salzigen Geschmack auf der Zunge, wenn sie versucht diesen Moment in ihren Gedanken einzufangen: Das Öffnen der kleinen Klappe, das Drehen des Verschlusses, das leichte Quetschen von Daumen und Zeigefinger in die dafür eingelassene Mulde, der unerwartet hohe Widerstand beim Versuch die Metallklappe aufzuziehen und dann: Ein kurzer gleißender Blitz gefolgt von sich schnell ausbreitender Dunkelheit. Was sie sah oder glaubte zu sehen, was sie wahrnahm, war kein reines Schwarz, mehr ein sehr dunkles Grau. Ein Grau wie man es sieht, wenn man an einem sonnigen Tag die Augen schließt und die hellen Strahlen der Sonne der Dunkelheit hinter den Lidern ein wenig Leben einhauchen. 


KAPITEL 6

„Nein. Sie ist noch nicht aufgewacht.“ E steht im leeren Krankenhausflur, in der rechten Hand ihr Handy, welches sie kraftlos an ihr Ohr hält. Ihr Blick wandert vom Boden rauf zu den doppelläufigen hölzernen Geländern, die wie Eisenbahnschienen die Wand entlang laufen. Das helle Braun des Holzes ist an manchen Stellen leicht abgewetzt und weist vereinzelt Reste von nicht ganz abgelösten Aufklebern auf. Wie viele Physiotherapeuten sind hier mit ihren Patienten langsame neue erste Schritte gegangen? Wie viele Verwandte, Eltern und Freunde haben hier Halt gesucht bevor sie in die Zimmer ihrer Angehörigen gingen, um das wahre Ausmaß der Nachricht mit eigenen Augen zu überprüfen? Sie holt Luft, hält kurz inne - aber die Worte wollen nicht kommen. Sie will nicht wiedergeben, was der Arzt ihr vor zehn Minuten mit ruhiger aber bestimmter Stimme über Gs Zustand mitgeteilt hatte. Das Gespräch dauerte keine fünf Minuten - fünf Minuten in denen E anfangs zwischen Hoffnung und Unwissenheit pendelte. Was das heiße, wollte sie wissen, als der Arzt von einer Glasgow Coma Scale und Punkten sprach. Was das mit G zu tun habe und wieso sie noch immer schlafe? Doch schon nach kurzer Zeit war aus dem Gespräch mit dem Arzt ein einseitiges Wortungetüm geworden - beladen mit Daten und medizinischen Fakten - aus denen E nur noch einzelne Versatzstücke fischte: Stromschlag, Koma, ungewiss, aktuell stabil, Hoffnung nicht aufgeben. Eine Krankenschwester kam aus einem der umliegenden Zimmer, sah E, nickte freundlich und wies gleichzeitig auf ein Schild an der Wand.

E nickte abwesend, kaum merklich zurück und folgte dem Hinweis der Schwester. Jetzt erst sah sie das Verbotsschild auf dem ein schwarzes Mobiltelefon doppelt mit dicken roten Linien durchgestrichen war. „Jens - Ich muss aufhören. Ich kann hier nicht reden.“ E beendete das Gespräch und starrte auf ihr Handy. Auf einmal spürte sie die kräfteraubende Nacht, das bange schlaflose Warten neben Gs Bett, die zahlreichen Telefonate mit Gs Vater, die zahllosen Nachrichten der Partygäste, der starke aber geschmacksneutrale Kaffee der Krankenhauskantine; das alles hatte sie durch die Nacht gebracht, ihr eine Aufgabe, einen praktischen und rationalen Sinn gegeben. Doch jetzt, da alles erledigt schien, Gs Vater unterwegs zum Krankenhaus war, alle Nachrichten beantwortet waren und der Arzt eine erste „vorsichtige Prognose“ abgegeben hatte, trafen sie die Ereignisse der letzten Nacht unvorbereitet. Nach einer Minute vollkommener Leere öffnete sie ihren Messenger und tippte eine Nachricht an Sven: „Sie hat sich keinen Zentimeter bewegt. Sven - sie liegt da wie tot.“ E war kein Kind von Traurigkeit - ihr Wesen wirkte wie ein Magnet: Wo sie war, war sie nie lange alleine. Sie verstand es Menschen zu unterhalten, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Dabei war sie nie aufdringlich oder unangenehm. Sie begann beiläufig ein Gespräch mit jemand vollkommen Fremden, fand selbst in der kargsten Antwort einen Anker, ein verbales Sprungbett, und bewegte sich so leichtfüssig von einem Thema zum nächsten ohne die Konversation an sich zu reißen.

Nur manchmal machte sie sich einen Spaß daraus und ließ ihr Gegenüber auflaufen. Meist waren das kleine Hilfeleistungen für ihre Freunde: Anrufe bei Beschwerde-Hotlines, ein Gespräch mit dem nervenden Nachbarn den man schon lange darum bitten wollte seine Trompetenstunden nicht während der Mittagszeit abzuhalten oder nörgelnde Kunden an der Supermarktkasse, die der Kassiererin vorhielten sie hätten nicht den ganzen Tag Zeit auf die neue Papierrolle für die Kassenzettel zu warten. In diesen Momenten schaffte es E mit ihrer Wortgewalt jeden zum Verstummen und manchen zur Einsicht zu bringen. Doch heute galt nichts davon. Heute fand sie keine Worte, die Eindrücke aus Zimmer 264 - aus Gs Zimmer - zu übersetzen. Sie fühlte wie sie diese Sprache, diesen neuen und unbekannten Dialekt, nicht wie sonst leicht und unbeschwert in verständliche kleine Häppchen zerlegen konnte. Wie sollte sie mit jemandem reden, der ohne Reaktion, ohne sichtbare Zeichen, ohne Bewegung einfach nur da lag? Ein Etwas in einem Bett. Ein Etwas das aussah wie G, das Gs Nachthemd trug, das atmete wie G, das warm war wie G und doch nichts von G hatte, wie sie sie kannte.

E und G gingen in die gleiche Schule, ab der sechsten Jahrgangsstufe in die gleiche Klasse. Aber wirklich kennengelernt hatten sie sich erst bei einem gemeinsamen Schüleraustausch. Die ganze Klasse war vier Wochen bei ihrer Partnerschule in New Ulm im Bundesstaat Minnesota. Die kleine von deutschen Auswanderern gegründete Stadt im Herzen des „Stern des Nordens“ war ein beliebtes Ziel unter Deutschlehrern. Zeigte sie doch die Wandlung der eigenen Sprache im fremden Umfeld über Generationen hinweg. Ein Freiluft Sprachlabor unter realen Bedingungen. Dazu kam, dass die Stadtgründer alte Traditionen wie den bayerischen Fasching, Weihnachten und sogar ein kleines Oktoberfest im Kulturleben verankert hatten. Die Begeisterung beider hielt sich anfangs in Grenzen als sie erfuhren, dass sie bei der gleichen Gastfamilie untergebracht wurden. Eine sechsköpfige Familie, Nachfahren der ersten deutschen Auswanderer, und doch voll amerikanischer Klischees im Streifenhörchen-Staat kurz vor Kanada. Vier Wochen lang teilten sich E und G nicht nur ein Stockbett und den gelben Schulbus zur Junior High, sondern auch die Schwärmerei für Matt, den ältesten Sohn der Kruders. Dass beide sich näher kamen verdankten sie vor allem ihm, als er ihnen in der zweiten Wochen ihres Aufenthalts eröffnete, dass er sich sehr über die zahlreichen Aufmerksamkeiten seiner Gäste freue - dazu gehörten mehrere liebevoll gestaltete handgeschriebene Briefe von E und G, die sie unabhängig voneinander unter Matts Tür geschoben hatten - er sich aber leider nichts aus Mädchen mache. Diese Ablehnung war der Beginn einer Freundschaft die G und E nun seit über zehn Jahren verband. Damals hatten sie sich gegenseitig geschworen, alle Männer die in ihre Leben treten würden, sofort der jeweils anderen offen zu legen. Sie nannten das ihr Tripple V - Vollstes Verehrer Vertrauen. E ging in die Krankenhauskantine, die sich nun langsam mit Besuchern und Patienten füllte. Die künstliche und sterile Atmosphäre der Nacht war verflogen. Die große Glasfront ließ die warme Morgensonne ungehindert in den Raum eindringen und umspielte die zahllosen weißen Plastikstühle und Tische mit orangenen und gelben Lichtern. Kurz ertappte sie sich dabei, dass ihr gefiel, was sie sah. Als E sich einen Kaffee bestellen wollte, kam eine Nachricht von Gs Vater: „Ich bin da. Wo bist du?“.

Sie ließ die Frau hinter der Theke wortlos mit ihrem Kaffee zurück und lief Richtung Eingang. Sie entdeckte P vor dem Schild mit den Wegweisern zu den einzelnen Stationen, beschleunigte ihren Schritt, fasste ihn am Ärmel seine Jackets und drehte ihn wuchtig zu sich. P, vertieft in die Anzeigetafel, war von der ungewollten Drehung überrascht, taumelte kurz und blieb dann in den Armen von E hängen. „Ich bin so froh dass du endlich da bist.“ E umarmte P, der noch immer nicht wusste wie im geschah, küsste ihn auf den Hals, verstärkte ihre Umarmung, hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Jetzt erst erkannte er sie und erstarrte. Als E ihn auf den Mund küssen wollte, wich er aus, schob sie grob und schnell von sich und flüsterte: „Ich bin nicht allein.“ E ließ augenblicklich von ihm ab und sah ihn entgeistert an. Noch bevor sie etwas erwidern konnte öffnete sich die große Eingangstür des Krankenhauses und M, Gs Bruder trat, gefolgt von Gs Mutter, in die Eingangshalle.
„Wie lange willst du das noch durchziehen?“. D stand mit verschränkten Armen vor Gs Bett und sah sie prüfend an. Sie spürte wie der fragende Blick immer mehr an Intensität gewann, je länger sie die Antwort hinauszögerte. Sie sah D an, vermied aber den direkten Augenkontakt. Als D sich zum Gehen wandte setzte sie sich leicht auf und sagte: „Warte.“ Er blieb stehen ohne sich umzudrehen. „Und?“, seine Frage klang leicht gereizt. „Gib mir noch ein bisschen. Zwei oder drei Tage. Dann hören wir auf. Okay?“. D antwortete nicht. „Bitte. Zwei Tage. Ja? Dann ist es vorbei.“ D drehte sich um und sah sich direkt an. „Zwei Tage. Wenn du es dann nicht beendest, dann mache ich es.“ Ohne eine Antwort abzuwarten verließ er das Zimmer. Sie wusste, dass ihr kleines Geheimnis nicht für immer aufrechterhalten werden konnte. Was hatte sie sich dabei auch nur gedacht? Seit vier Wochen lag sie nun im Krankenhaus, seit gut drei Wochen war sie aus dem Koma erwacht und doch lag sie weiterhin bewegungslos in ihrem Bett - hielt den Zustand der Hilflosigkeit für ihre Besucher, Verwandte und Freude bewusst aufrecht, spielte die bemitleidenswerte Patientin, die Frau ohne Bewusstsein - den unbeweglichen Schwamm. „Schwamm“ diese Bezeichnung hatte sie sich selbst gegeben, nachdem sie zum ersten Mal bei vollem Bewusstsein ihre Situation nutze und mit geschlossenen Augen regungslos die Komapatientin spielte. Beim ersten Mal gab es keinen Vorsatz, es passierte einfach. G erwachte - nein es war kein Erwachen - es war ein langsames, diffuses Gleiten aus einem undefinierten Zustand, einem traumlosen Tiefschlaf ähnlich, hinüber in die Phase kurz vor dem Erwachen, wenn sich die Bilder des Traums mit den Geräuschen und Einflüssen der echten Welt vermischen. Zu diesem Zeitpunkt war sie nicht alleine. Es war Es Stimme die sie durch das Dickicht der Eindrücke lotste.

Langsam flossen vertraute Klänge, geformt aus einem Auf und Ab an Silben und vereinzelten 
Wortfetzen, unterbrochen von unregelmäßigen Pausen, hervorgerufen durch totale Stille im Wechsel mit dem Pochen des eigenen Herzschlags, der dumpf im Innenohr widerhallte, in ihr Bewusstsein. Die Versatzstücke trieben wie Bojen über ein Meer aus Bildern und Tönen. G ließ sich von der Strömung ziehen, folgte dem Klang von Es Stimme, hielt immer wieder inne und justierte sich neu - hangelte sich von Wort zu Wort, von Boje zu Boje. Während ihr Bewusstsein langsam wieder in Bewegung kam, verharrte ihr Körper in seiner Regungslosigkeit. „Ich weiß auch nicht. Auf einmal war das so.“ Es Stimme war jetzt ganz nah, um im nächsten Moment wieder von einer Welle erfasst, verschluckt und fortgetragen zu werden. G erhaschte ein „schon lange Schluss machen“, ein „keine gemeinsame Zukunft“, und später etwas leiser und schwächer „Es tut mir leid. - Und deinem Vater auch“. Danach fiel G erschöpft in einen tiefen Schlaf aus dem sie erst nach mehrere Stunden erwachte. Es war dunkel in ihrem Zimmer - sie spürte die Matratze unter sich und wie sie unangenehm auf ihre Beckenknochen drückte.

Und da war ein taubes Gefühl, dort wo sie ihre Fersen vermutete. Der Schein der grünen Led-Displays der medizinischen Überwachungsgeräte erhellte den Raum gerade so stark, dass G die schemenhaften Umrisse des Zimmers deuten konnte. Da war ein Stuhl auf der rechten Seite des Betts, dahinter ein Schrank mit zwei Türen, dann eine schmale Vertiefung in der Wand. Wahrscheinlich eine Tür oder ein Durchgang zu einem Badezimmer. Auf der linken Seite des Betts stand ein Nachttisch auf Rollen mit der krankenhaustypischen Multifunktionalität, darauf glaubte sie Vasen mit Blumen und ein paar Karten auszumachen. Ein Fenster war zur Hälfte mit einem dicken Vorhang verdeckt, die andere Hälfte gab den Blick in eine sternenlose Nacht frei. Es war kühl und durch das gekippte Fenster drang ein leichter Luftzug in das Zimmer. Gs Mund war trocken. Sie öffnete ihn leicht und versuchte zu schlucken. Doch ihr Rachen war so trocken, dass der Versuch einen stechenden Schmerz verursachte und sie einen plötzlichen Hustenanfall gerade noch unterdrücken konnte.
Seit diesem ersten Erwachen waren drei Wochen vergangen. Drei Wochen die ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt hatten. Sicher, da gab es noch die gleichen Menschen bestehend aus Familie und Freunden, Bekannten und Kollegen. Sie trugen die gleichen vertrauten Namen und blickten aus den gleichen bekannten Gesichtern. Doch es war als ob man sie alle in einen neuen Zusammenhang gesetzt hätte. Als ob ein allzu kreativer Regisseur nach einer missglücken Szene das Drehbuch von Gs. bisherigem Leben zerrissen und für nichtig erklärt hätte. „Das ist doch alles Scheiß so. Das funktioniert nicht.“ Der Drehbuchautor erhielt eine Woche Zeit um den Film zu retten. Und als G nach dieser erwachte, hatten alle Protagonisten ihre neuen Rollen eingenommen - als ob sie schon immer so gewesen wären. G. kann bis heute nicht sagen, was sie dazu bewegt hatte ihren Zustand künstlich zu verlängern. Es war eine Entscheidung die sie unbewusst in der ersten Nacht ihres Erwachens traf, als sie darauf verzichtete die Klingel, die nur fünfzehn Zentimeter von ihrer rechten Hand entfernt auf dem Bett lag, zu drücken. Diese kleine Bewegung, die erst das Zeichen für die Nachtschwerster, dann für ihre Familie und Freunde gewesen wäre: „G ist aufgewacht. Sie hat es überstanden. Ihr müsst nicht mehr bangen. Ihr habt Gewissheit. Sie ist bei Bewusstsein.“ Als die Nachtschwester zwei Stunden später bei ihrem Routine-Rundgang auch in Gs Zimmer kam, um nach dem Rechten zu sehen, lag G ruhig und gleichmäßig atmend mit geschlossenen Augen in ihrem Bett und lauschte den Schritten. Sie spürte eine warme Hand auf ihrem Handrücken und ihrer Stirn, hörte das Schleifen des Klemmbretts, auf dem der Patientenbogen befestigt war, als er aus der Halterung am Bett entnommen wurde, um die aktuellen Daten einzutragen, und vernahm den Atem der Schwester, der nach Kaffee und Zigaretten roch, als diese, über G gebeugt, ihren Kopf anhob und das Kissen vorsichtig richtete.


KAPITEL 7


„He meine Kleine. Was machst du denn für Sachen?“ P strich G vorsichtig über den Kopf und küsste sie leicht auf die Stirn. Als seine Lippen die Wärme ihrer Haut spürten, fühlte er zum ersten Mal seit Stunden Zuversicht aufsteigen. Seit der Nachricht von E, dass G im Krankenhaus läge und die Ärzte nicht genau wüssten wie sie ihren Zustand interpretieren sollten, spielten sich vor seinem Auge alle erdenklichen Szenarien ab, die er mit dem Begriff Koma verband. Da war ein Film, den er vor Jahren einmal gesehen hatte, ein Hollywood-Drama in dem apathische Menschen durch die richtige Behandlung wieder zum Leben erwachen. Er erinnerte sich an Meldungen, die in regelmäßigen Zeitabständen durch die Zeitungen gingen: „Koma-Patient erwacht nach 15 Jahren.“
Daneben stand die schmerzhafte Erinnerung an seine eigene Mutter, die nach einer Alzheimer-Erkrankung im Endstadium über viele Jahre bewegungsunfähig in einem Pflegeheim ans Bett gefesselt war. Je länger ihr Zustand anhielt, desto weniger Kraft brachte er auf sie so zu sehen. Er wusste nie, was er bei seinen kurzen, zwischen zwei Terminen eingeschobenen Besuchen, sagen sollte - saß meist steif auf einem alten Holzstuhl neben ihrem Bett und starrte den Nachdruck von Paul Cézannes „Mutter und Schwester“ an - eines der letzten verbliebenen persönlichen Gegenstände seiner Mutter. Seit er denken kann, hing das Bild im Schlafzimmer seiner Mutter, und als ihre Krankheit so weit fortgeschritten war, dass eine weitere häusliche Betreuung von ihr fahrlässig gegenüber allen Beteiligten geworden wäre, war es eines der wenigen Dinge aus ihrer gewohnten Umgebung, das er mit in das Pflegeheim brachte.

Als Kind fragte er seine Mutter was ihr an dem Bild gefiele, denn er selbst konnte darin weder etwas Schönes oder Inspirierendes erkennen, noch verstand er, wie man jeden Tag mit dem Blick auf ein Bild aus dem letzten Jahrhundert beginnen konnte, welches ein dunkles Zimmer mit zwei Frau zeigt: Die eine (wohl die Tochter) spielt Klavier, die andere (wahrscheinlich die Mutter) ist in eine Handarbeit vertieft. Für ihn hatte das Bild nichts Lebendiges: Die Farben waren matt, dunkel und düster und die Szene selbst wirkte wie eingefroren - jeder Bewegung beraubt. Doch seine Mutter sah das Bild mit einer Mischung aus Verlorenheit und Wärme an und sagte: „Es erinnert mich. Jeden Tag an den nächsten.“ Die wirkliche Bedeutung des Bildes erschloss sich P erst viel später. Als es seiner Mutter immer schlechter ging kümmerte er sich um alle rechtlichen Belange, durchkämmte ihre Finanzen für die Pflege- und Rentenversicherung, entdeckte zwei alte Sparbücher und eine Handvoll Staatsanleihen. Seine Mutter war immer eine gut organisierte Frau gewesen, die alle Unterlagen in ordentlich beschrifteten Aktenordnern sammelte. So war es ihm eine Leichtes alles für die verschiedenen Ämter und Behörden vorzubereiten. Am Ende seiner Recherche entdeckte er ein kleines in Leder gebundenes Buch.

Er erinnerte sich, dass seine Mutter es gelegentlich aus ihrem Nachttisch holte, kurz darin las und es wieder zurücklegte. Er hatte sich nie wirklich dafür interessiert und hielt es für eines ihrer Gedichtbände, die sie für kurzweilige Momente immer in Griffweite über die ganze Wohnung verstreut hatte. Als er es Aufschlug musste er zu seiner Verwunderung feststellen, dass es ein Buch über seine Familie war. Eine feinsäuberlich angelegte Chronik samt Stammbaum. Letzterer führte zurück bis in sechzehnte Jahrhundert und eröffnete ihm, dass seine frühesten Vorfahren aus Montauban, einer französischen Stadt in der Region Okzitanien, stammten, die im späten achtzehnten Jahrhundert nach Deutschland auswanderten. Daneben fanden sich verschiedene Schriftstücke sowie Kopien von Geburts- und Sterbeurkunden die chronologisch angeordnet waren. P suchte seine Geburtsurkunde, und fand sie wie vermutete auf der letzten Seite des Buches: Peter Frunge, geboren am 26. September, 1969, Vater: unbekannt.

Er blätterte eine Seite zurück, um die Daten seiner Mutter zu sehen. Doch nach seinem Eintrag fand er zwei weitere Dokumente: Eine Geburts- und eine Sterbeurkunde. Ausgestellt auf Tabea Frunge, geboren am 14. März, 1959 - verstorben am 06. Dezember 1964. Cézannes Bild „Mutter und Schwester“ vervollständigte also die Familie von P - das Bild war für seine Mutter Wunsch und Trauer zugleich. Sorgfältig ausgewählt: die Szene, die Farben, die Unbeweglichkeit, das Matte und Erstarrte, die Stille - die trotz des augenscheinlichen Klavierspiels über dem Bild lag - das alles, verbunden mit dem Verlust der eigenen Tochter, Ps Schwester, stand bei jedem Zubettgehen und bei jedem Erwachen im Zentrum von Ps Mutter. Für P wurden die Besuche im Pflegeheim ab diesem Moment noch schmerzlicher: Mit dem Wissen um den Verlust seiner Mutter, und der Gewissheit, keine Antwort auf seine Fragen zu erhalten, legte sich eine bleierne Schwere auf seine Zunge. Es war ihm nicht möglich, mit seiner Mutter zu sprechen, ihr all die Fragen, die sich durch seinen Fund ergeben hatten, zu stellen. Selbst wenn sie sie gehört und verstanden hätte - wie hätte sie sich verständlich machen sollen? Welche Mittel blieben ihr noch und welchen Nutzen, welche Gewissheiten hätte P erfahren?

Das Pflegepersonal ermunterte P immer wieder mit seiner Mutter zu sprechen, ihr Dinge aus seinem Leben zu erzählen. „Sie weiß, dass sie da sind - auch wenn sie nicht mehr antworten kann.“ Doch P blieb stumm. Es schien als habe in seiner Familie jeder seine Stimme verloren: P, seine Mutter und das Bild seiner Schwester. „Sie weiß, dass wir da sind. Ich bin mir sicher.“ P spürte die Hand von L (seiner Frau) auf seiner Schulter und sagte nach einem kurzen Moment der Sammlung: „Ich weiß.“ Und dann nochmal leise zu sich: „Ich weiß es.“ Die nächsten Tage verbrachte P wie in Trance. Nachdem er alle Termine für die nächsten zwei Wochen abgesagt hatte pendelte er zwischen Krankenstation und seinem Haus in einer Kleinstadt im Speckgürtel von München.
Obwohl die strikte Besuchszeit bei Fällen wie G aufgehoben war und man ihm auch ein Bett im Krankenhaus angeboten hatte, zog er es vor bei seiner täglichen Routine zu bleiben. Dieser jahrelang trainierte Rhythmus gab ihm Sicherheit. Er verzichtete lediglich auf das morgendliche halbstündige Ritual, den Wirtschaftsteil der Tageszeitung zu lesen, und verließ früher das Haus, um dem stärksten Berufsverkehr zu entgehen - alles andere blieb wie immer: Der Wecker um 05.00 Uhr, die Dusche, der am Abend zuvor bereitgelegte Anzug, der kurze Blick in die Mails vor der Abfahrt, im Auto die neuesten Meldungen der Deutschen Welle, der kurze Stopp an der Raststätte, um die einzige Zigarette des Tages zu rauchen und der anschließende Gang zur Coffee-To-Go-Bar. Er funktionierte, die Automatismen griffen wie ein Räderwerk ineinander und hielten ihn auf der Spur. L zog es vor, im Krankenhaus zu bleiben. Sie hatte ein Besucher-Zimmer auf der gleichen Station wie G bezogen und verbrachte die Nächte in nächster Nähe zu ihrer Tochter. Dabei stellten beide den Umgang mit dieser für sie extremen Situation dem jeweils anderen nicht zur Diskussion. „Bleibst du hier?“ fragte L am ersten Abend an Gs Bett. „Nein. Ich fahre nach Hause und komme morgen Früh wieder. Brauchst du etwas? Soll ich dir was mitbringen?“ „Ja bitte. Pack mir etwas zusammen. Du weißt, wo alles ist. Und bring mir bitte eine Decke aus dem Wohnzimmer mit. Die rote, die G so gerne mag. Ja?“ Seitdem pendelte er zwischen Normalität und Extreme: Nachts das ungewohnt leere aber bekannte Bett in geschützter Umgebung - Tagsüber das Krankenhaus, meist gemeinsam mit L neben Gs Bett. Sie sprachen kaum und wenn dann nur über den nächsten Kaffee, ob man Hunger habe oder dass einer mal mal kurz rausgehe an die frische Luft - die Beine vertreten oder um zu telefonieren. Sie sprachen allgemein nicht viel in letzter Zeit. Nach vierundzwanzig Jahren Ehe hatte sich allmählich Pragmatismus breit gemacht. Und auch dieser hatte sich in den letzten Monaten noch einmal auf das Notwendigste reduziert. Damals startete das Luxemburg-Projekt, wie es Gs Vater getauft hatte. Ein Projekt seiner Abteilung, um den schwächelnden Finanzmarkt der Landesbank auf dem internationalen Parkett des steuerfreundlichen Kleinstaats wieder zu beleben. P mochte diese Sonderprojekte, die eine willkommene Abwechslung in den manchmal sehr bürokratischen Arbeitsalltag brachten. Er gründete eine Taskforce und setzte vier interne Mitarbeiter sowie drei Werkstudenten für die Dokumentation auf das Thema an. Da es ihm wichtig war, wer das Projekt bearbeitete, wählte er die Teilnehmer persönlich aus. Die Stellen bei der Landesbank waren bei den Studenten sehr beliebt. Neben dem bekannten Namen des Geldinstituts für die Vita, waren sie meist gut bezahlt und erlaubten es, während der Beschäftigung ein ausgezeichnetes Netzwerk an Kontakten aufzubauen.

Für das Luxemburg-Projekt gab es über 90 Bewerber von Universitäten aus dem ganzen Land und dem benachbarten Ausland. Am Ende blieben sechs Kandidaten übrig, die P an einem Freitagmorgen im Februar begrüßen konnte. Unter ihnen war E. Und P war sehr überrascht und erfreut zugleich, sie in diesem für sie beide so ungewohnten Umfeld zu sehen. Er hatte E, die früher, als G und E noch jünger waren, bei ihnen aus und ein ging, länger nicht mehr gesehen und nur am Rande mitbekommen, dass sie gerade ihr Studium im Ausland abschloss. E erzählte, dass sie gerade ihren Master of Science in Business and Management (MBM) in Holland absolvierte und das Praxissemester gerne in der Heimat verbringen wollte. Am Ende des Tages hatte E den Job und P freute sich, einer langjährigen Freundin seiner Tochter beim Karrierestart unter die Arme greifen zu können. Kurz vor Gs Unfall fragte E P nach einer ihrer gemeinsamen Nächte eher beiläufig aber nicht ohne den nötigen Ernst: „Würdest du mich eigentlich nochmal einstellen?“ — „Ich weiß es nicht“.


KAPITEL 8

Das Schlimmste am Anfang war der Hunger. Kein wirkliches Hungergefühl, eher der Wunsch Nahrung zu sich zu nehmen, eine Sättigung herbeizuführen und dabei selbst aktiv zu werden: Der Akt des Essens als Gegenstück zur puren Nahrungszuführung. Essen war für Gesa bisher immer Beiwerk: Sie aß was es gab, was sie kannte, was sie gewohnt war. Im Restaurant griff sie auf die Klassiker zurück, Variationen bestimmte der Hunger, nie die Neugier. Doch jetzt, da sie keinen Einfluß mehr darauf hatte wann und wie man ihr die Nahrung verabreichte, noch in welcher Form, sehnte sie sich danach: Sie wollte den Mund öffnen, abbeißen, kauen, schlucken, schmecken, riechen - selbst entscheiden wann es genug sei, doch noch einen Bissen mehr nehmen und spüren wie sie sich nach und nach füllte. Neben dem Hunger gab es ein weiteres Problem: die Disziplin. Bewegungslosigkeit ist anstrengend, wenn sie gewollt ist.

Gesa spürte wie sich jedes Mal ihr Atemrhythmus veränderte wenn sie nicht allein im Zimmer war. Wie sich ihre Muskeln anspannten, ihr Körper versteifte und so den Effekt verstärkte. Am Schlimmsten waren die Momente, wenn jemand nach ihrer Hand griff, ihr über die Stirn strich oder sie unvermittelt berührte. So sehr sie auch wollte, sie konnte die unterbewusste Reaktion nicht verhindern und zuckte jedes Mal kurz - aber merklich - zusammen. Ihre Besucher deuteten dies als bewusstes Lebenszeichen und riefen anfangs voller Hoffnung nach der Schwester oder einem Arzt. Diese erklärten dann, dass dies eine normale Reaktion für Patienten in Gesas Zustand sei und deuteten es verhalten positiv - ohne der Hoffnung zu viel Gewicht zu verleihen. „Sie müssen Geduld haben - Ihr Zustand ist stabil - Ihr Körper reagiert den Umständen entsprechend - Das Gute ist, dass sich nichts zum Negativen verändert hat.“ In diesen Momenten, in denen Gesa die Hoffnung der anderen förmlich greifen konnte, und sie gleichzeitig durch ihr Verhalten und ihre Unbeweglichkeit der selben beraubte, mehrten sich die Zweifel an ihrer Entscheidung.

War das hier nur ein Spiel eines egoistischen Mädchens, das lieber vorgab krank zu sein als der Welt da draußen die Stirn zu bieten? Wog die erzwungene Ehrlichkeit der anderen durch ihre Beichten und Geschichten - Erzähltes, von der Angst getrieben, die Worte nicht mehr an sie richten zu können - schwerer als ihre Lüge? Wäre es nicht besser für alle Beteiligten, diese Monologe in ein Gespräch zu verwandeln? In ein sehendes Miteinander - anstatt zu einem Körper zu sprechen, der nichts weiter war als die Hülle, das Thema, der Rahmen und nichts mehr anbot als den Moment, den man zu nutzen hat - nein, nutzen musste - denn vielleicht war es die letzte Möglichkeit etwas zu sagen - etwas von sich nehmen zu lassen. Gesa merkte, wie sie, während sie sich mit ihrer eigenen Moral auseinandersetzte, immer ruhiger wurde und den Gedanken folgend eine innere Entspannung erlangte, die alle Zweifel beiseite wischte und unter einer großen schweren Decke aus gefühlter Gerechtigkeit und Trotz begrub. „Hätten sie es mir irgendwann erzählt? Ihre kleinen und großen Geheimnisse - die schmutzigen Details? Die wahre Familiengeschichte - die interessanten Teile der BestFriendsForever-Story? - Sicher nicht - Hätten sie es mit ins Grab genommen? - Nein - Aber sie mit in das meine gelegt.“ „Glaubst du, sie würden es verstehen, wenn ich es ihnen irgendwann sage?“ fragte Gesa David als sie mal wieder allein im Zimmer waren.

„Was glaubst du? Was würdest du machen, wenn dir deine beste Freundin, deine Mutter oder dein Bruder in einem ruhigen Moment bei einer guten Flasche Rotwein sagt: ‚Du. Ich war gar nicht im Koma. Ich fand es nur so interessant und inspirierend, was ihr mir so alles erzählt habt. Und irgendwie konnte ich dann nicht mehr aufhören und bequem hatte ich es ja auch - Ach, ihr habt euch Sorgen gemacht? Ich weiß - sorry. Aber denkt doch auch mal an mich.‘“ Davids Antwort ärgerte sie. Sie hatte nicht erwartet, auf uneingeschränktes Verständnis zu treffen, aber so direkt ausgesprochen hörte es sich hart und schroff an. „Erzählst du denn deinen engsten Vertrauten alles, was wirklich wichtig ist? Und ich mein jetzt nicht die alltäglichen kleinen Zweifel wie: sollte ich das tun - oder lieber das? Ich meine die wirklichen Fragen und Sorgen, die puren ungefilterten Wünsche und Gedanken.“ David sah sie an. „Du weißt, dass ich das nicht tue. Und du weißt, warum ich es nicht kann.“ Gesa wich seinem Blick aus und erwiderte „Ich weiß.“ Nachdem Gesa nach ihrem Erwachen den Entschluss gefasst hatte, ihren Zustand zu verlängern, war ihr bewußt, dass mehr dazu gehörte als einfach nur ruhig liegen zu bleiben. Da gab es ein paar organisatorische Dinge: Die Nasensonde, die sie künstlich ernährte musste weg.

Der Schlauch schränkte nicht nur ihre Bewegungsfreiheit ein, er hinderte sie auch daran, frei zu atmen und zu schlucken. Dann gab es den Blasen-Katheter und die Windel. An beides müsste sie sich wohl oder übel gewöhnen, denn Komapatienten gehen selten auf die Toilette. Dazu kamen die Überwachungsgeräte für Blutdruck, Puls, Herzfrequenz und anderes. Solange sie ihre Bewegungen kontrollieren und einschränken würde, sollte auch das klappen. Aber alleine würde man ihr sehr schnell auf die Schliche gekommen. Sie brauchte einen Verbündeten. „Ich komme gleich nach. Ich checke nur noch schnell die Werte und trage sie ein.“ Eine hohe männliche Stimme drang aus dem Gewirr der täglichen Visite heraus und näherte sich Gesa. Die anderen entfernten sich langsam und als die Tür ins Schloss fiel, war sie mit der Stimme allein. Sie spürte eine Hand an ihrem Handgelenk und zwei Finger, die nach ihrem Puls suchten. Gesa hörte angestrengt in den Raum, ob sich noch jemand anderes darin befand. Aber außer dem Atem des Mannes und dem leisen Reiben seiner Kleidung - es klang wie das langsame Ziehen von gestärkten Bettlaken über eine Matratze - war nichts zu hören. Sie zählte bis drei, riss dann die Augen auf, griff gleichzeitig nach der Hand, die ihren Puls prüfte und packte fest zu. Der Mann stieß einen kurzen hellen Schrei aus und machte einen Satz zurück.

Doch Gesa verstärkte ihren Griff, sah ihn an, legte ihre andere Hand auf ihre Lippen und presste ein kurzes scharfes „Schhhh“ heraus. „Verdammt. Was soll das? Sind Sie wach?“ Gesa nickte und versuchte den Mann näher zu sich zu ziehen. Doch das viele Liegen hatte sie geschwächt und sie merkte, wie ihr Griff langsam an Kraft verlor. „Bitte - hören Sie mir zu. Bitte rufen Sie niemanden. Ich werde es Ihnen erklären.“ Der Mann sah sie unschlüssig an und während Gesa die Szene in Zukunft als Paradebeispiel für die Aussage „Jemanden beim Denken zusehen“ heranziehen würde, stutze auch sie und ließ den Arm des Mannes los. „20.15? Du bist 20 Uhr 15!“ rief sie ihm erstaunt entgegen. Der Mann trat einen weiteren Schritt zurück und sah sie erschrocken an. "Du musst mir helfen!“ Während ihrer Studienzeit war Gesa oft knapp bei Kasse. Sie hatte keinen ausschweifenden Lebenswandel, aber genoss es doch hin und wieder um die Häuser zu ziehen und in den Semesterferien zu verreisen.

Die finanzielle Unterstützung ihres Vaters reichte für die Grundversorgung „Den Rest musst du dir selbst verdienen. Bei mir war das nicht anders. Und geschadet hat es mir auch nicht.“ Ihr Vater hatte ein klares Wertesystem, was Geld betraf. Eigenverdientes besaß einen höheren Stellenwert. Ihm wäre es ein Einfaches gewesen, seinen Kindern einen großen finanziellen Rahmen ohne Sorgen zu bereiten - doch „der gepflückte Apfel schmeckt süsser als der geschenkte“, lautete einer seiner zahlreichen Motivationssprüche. Gesa fand einen Job in einer Spielothek in Haidhausen. Dreimal die Woche stand sie hinter dem Tresen, wechselte große Scheine in kleinere, schenkte Softdrinks aus und füllte die Erdnüsse an der Bar nach. Die größte intellektuelle Herausforderung stellte die Bedienung der Mikrowelle dar, in der sie eingeschweißte Hamburger und Hotdogs erwärmte. Da die Knöpfe für die Wahl der Dauer und der Gradzahl nicht mehr funktionierten, musste sie den Stromstecker der Mikrowelle bei jedem Erwärmen der Packungen in die Steckdose stecken und die Zeit auf ihrem Handy stoppen. Die Gäste ließen sie meist in Ruhe. Trinkgeld gab es nicht - das Wechselgeld wanderte für die nächste Runde in einen vielversprechenden Automaten der „gleich reif“ war. Eine willkommene Abwechslung brachten die gelegentlichen Besuche von Elena. Sie war es auch, die Gesa eines Abends von einer „einfachen Möglichkeit Geld zu verdienen“ erzählte. Elena war eine Meisterin von „einfachen Möglichkeiten“. Eine ihrer zahlreichen Gelegenheitsjobs bestand darin, als Hoteltesterin an Wochenenden quer durch Deutschland zu reisen und den Service vor Ort mit den angepriesenen Leistungen auf der Webseite abzugleichen.

„Stell dir vor. Ich fahr dahin, checke ein, lass mir Essen aufs Zimmer bringen, beschwere mich über nicht korrekt zusammengefaltete Handtücher und Haare im Bad und habe ein Checkliste, die ich am nächsten Tag abhake. Das ist alles. Ich schlaf in schnieken Hotels und lass es mir bezahlen.“ Eine andere Tätigkeit bestand darin, Kunden im Eingangsbereich einer Parfümerie zu beobachten. „Die Männer verziehen meistens das Gesicht. Denen ist das zu viel. Aber die Frauen werden von dem Duft regelrecht reingezogen. Ich habe ein Klemmbrett mit Smileys drauf. Wenn jemand lächelt, mach ich einen Strich unter dem lachenden Gesicht. Das wars.“ Wie Elena zu diesen Jobs kam, war Gesa schleierhaft. Sie war sich aber sicher, dass sie noch nie eine Jobbörse im Internet oder Stellenanzeigen in einer Zeitung durchforstet hatte. Die aktuelle „einfache Möglichkeit Geld zu verdienen“ klang ganz nach Elena. Sie bestand darin, jemanden in einem Hotelzimmer zu beobachten. „Ich schau also jemanden im Hotelzimmer zu? Und dafür bekomme ich Geld?“ fragte Gesa ungläubig. „Bei was? Ist das so ein fetisch Ding?“ „Naja. Also du musst auf jeden Fall nichts machen. Du stehst da hinter einer Wand mit Guckloch. Irgendwann kommt jemand rein, macht was und geht dann wieder. Der Kick für den ist, dass er weiß, dass er nicht alleine ist. Er weiß aber nicht, wer hinter der Wand steht. Er weiß nur, dass er beobachtet wird. Das ist alles.“ “Danke. Aber Ne. Da reichen mir meine Glückspieljunkies und die geschmacksneutralen Hotdogs“ erwiderte Gesa. „Überleg’s dir. Freie Zeiteinteilung - du bleibst anonym. Und pro ‚Watchhour‘ gibt es 250 Euro.“ Am Ende siegte die Neugier und die Aussicht auf 250 Euro über Gesas Bedenken. So stand sie an einem Sonntagabend um 20.15 Uhr in einem 4 Sterne Hotel in der Münchner Innenstadt hinter eine Wand mit einem kleinen Seeschlitz.

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