KAPITEL 9
Kapitel 5
Der
Puppenspieler
„Dein Handy bitte.“ Der Mann, der
sich Gesa vor fünf Minuten in der Hotel-Lobby als Andrasch vorgestellt hatte,
streckte ihr ungeduldig seine rechte Hand entgegen. Als Gesa zögerte, atmete er
hörbar genervt aus und erklärte ihr „kurz mal die Spielregeln. Pass auf Kleine:
Unsere Kunden wollen gesehen werden, klar, deswegen bist du ja da. Aber die
haben keinen Bock, sich später auf irgendwelchen Videoportalen im Netz
wiederzufinden. Verstanden?“
Gesa händigte ihm zögerlich ihr
Smartphone aus. Als Andrasch ihren verunsicherten Blick sah, beruhigte er sie:
„Keine Sorge. Du kannst es dir später wieder abholen. Ist das dein einziges?“
Gesa nickte. „Gut. Dann brauch ich hier noch eine Unterschrift.“ Er holte
umständlich zwei Blätter Papier aus einem verschlissenen Jutebeutel hervor und
schob sie ihr über den Tisch zu. „Damit verpflichtest du dich mit keinem
darüber zu reden, was du die nächsten zwei Stunden sehen wirst. Und mit ‚keinem
Reden‘ meine ich: Kein Wort zu niemanden. Weder zu deinem Schätzchen, noch zu
deiner besten Freundin oder deiner Oma. Ist klar, oder?“ Gesa stutzte. Sie
hatte nicht damit gerechnet eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen zu
müssen. Das Ganze hier sollte ein kleines Abenteuer werden, ein Versuch, ein
Ausbruch - im besten Fall ein lukrativer Ausbruch auf Zeit - vorab geprüft und
mit Siegel versehen durch Elena die ihr versicherte, dass das alles mit
„rechten Dingen zugehe“ und „total save“ sei. Doch mit diesem Stück Papier
wurde es plötzlich zu etwas Förmlichen, zu einer bindenden Verpflichtung mit
möglichen Auswirkungen und Folgen. Sie zögerte. Andrasch, der ihr schräg
gegenüber saß und nervös mit Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand die
Knöchel seiner fleischigen linken Faust bearbeitete, rollte mit den Augen.
„Elena hat mir gesagt du bist cool. Aber so wie es aussieht machst du dir
gleich Pipi ins Höschen. Was ist jetzt, Mädchen?“, sein Ton wurde schärfer,
„der Kunde kommt gleich. Wenn ich die Sache jetzt absagen muss…“ Gesa
unterschrieb die Vereinbarung ohne auch nur ein Wort des Inhalts zu lesen und
schob ihm den Zettel zurück über den Tisch. „Jetzt zufrieden?“, sie sah in
genervt an. „Geht doch. Schön gemacht. Hier sind deine ersten 100 Tacken - den
Rest gibt es nach der Watchhour. Ich bring dich jetzt rauf.“
Gesa folgte Andrasch über das
Treppenhaus in den zweiten Stock des Hotels. Es roch nach Reinigungsmittel und
alten Teppichen; auf der Zwischenetage standen Wäschewagen, kopfhoch mit
schmutzigen Bettlaken und nassen Handtüchern gefüllt. Andrasch blieb vor den
Wagen stehen und schob einen von ihnen zur Seite. Dahinter verborgen war eine
Tür, die in die Wand eingelassen war. Sie war klein, nicht mehr als einen Meter
fünfzig hoch und besaß keine Klinke. Andrasch holte einen kleinen silbernen
Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete sie. „Hier gehts rein in die gute
Stube.“
Er schob Gesa ein wenig nach vorne
und sagte: „Einfach die Treppe rauf. Oben ist ein Stuhl. Auf den setzt du dich.
Im Stuhl ist ein Drucksensor - wenn du aufstehst, merk ich das - und der Kunde
auch, denn der Stuhl ist mit einer kleinen roten Lampe im Zimmer verbunden. Die
leuchtet solange du sitzt. Und solange die Lampe brennt - so lange bist du auf
Sendung. Wenn du also früher abhaust versaust du es - es gibt keine Kohle und
wir haben uns heute zum ersten und letzten Mal gesehen. Verstanden?“ Gesa
nickte. „Ich warte unten. Und wenn die Watchhour vorbei ist bekommst du dein
restliches Geld.“
Nachdem Gesa die schmale Treppen nach
oben gegangen war fand sie sich in einem quadratischen Raum wieder. Er war
gerade so breit, dass sie die gegenüberliegenden Wände mit ihren Händen
berühren konnte. In der Mitte des Raums stand ein Stuhl mit grünem Lederbezug,
zwei Arm- und einer Rückenlehne. Der Stuhl stand vor einem kleinen Fenster,
das, so vermutete Gesa, auf der anderen Seite verspiegelt war. Durch das
Fenster konnte sie fast das ganze Hotelzimmer sehen. Auf der rechten Seite
stand nach hinten versetzt ein Bett, dessen Kopfende mit der rechten Wand
abschloß; Links befand sich die Tür zum Bad. Sie war halb geöffnet und gab den
Blick auf eine Badewanne frei. An der Wand neben der Tür hingt ein großer Fernseher.
Das Zimmer hatte keine Fenster. Auf der Gesa gegenüberliegenden Wand war ein
Spiegel so angebracht, dass sie die Zimmertür sehen konnte. Sie setzte sich.
Hatte sich Gesa bis zu diesem
Augenblick hauptsächlich über die barsche und aufdringliche Art von Andrasch
geärgert, kroch nun langsam die Aufregung in ihr hoch. Sie rutschte nervös auf
dem Stuhl hin und her und musste zu ihrem bedauern feststellen, dass der grüne
Lederbezug sich als billiges Imitat entpuppte. Ihre Hose klebte an der Unterseite
ihrer Oberschenkel und würde das längere Sitzen zu einer unangenehmen Tätigkeit
werden lassen. Sie entschloss sich abwechselnd einen Fuss abgewinkelt auf das
Polster zu stellen und ihr Gewicht auf das Steißbein zu verlagern. „Was auch
immer jetzt geschieht - ich hoffe es dauert keine zwei Stunden“, dachte sie bei
sich, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Zimmer wahrnahm.
Die Zimmertür wurde langsam
aufgeschoben und ein Mann drückte sich rückwärts in den Raum. Er zog zwei große
blaue Hartschalenkoffer hinter sich her. Er stellte die Koffer in die Mitte des
Zimmers und schloss die Tür. Gesa beugte sich leicht nach vorne, um einen
besser Blick auf die Szene zu bekommen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. „Okay.
Ein Mann. Zwei Koffer. Ist ja auch ein Hotel. Nicht weiter verwunderlich“,
beruhigte sie sich selbst.
Der Mann orientierte sich kurz, legte
dann die Koffer quer auf das Bett und öffnete sie. Nach und nach holte er
verschiedene Spielsachen für Kinder hervor und drapierte sie liebevoll im
ganzen Raum: Ein funkgesteuertes Auto, eine durchsichtige Plastiktüte mit einer
Playmobil Feuerwehr, ein kleines batteriebetriebenes Kinderklavier,
verschiedene Bücher, ein Puzzle - „1000 Teile“ prangte gut leserlich auf der
Schachtel - dazu zwei Plüschtiere - ein
grauer Hase und ein schwarz gepunkteter Hund. Einer der Koffer war bis zum Rand
mit Legosteinen gefüllt. Der Mann kippte den Inhalt in eine Ecke des Zimmers
und legte zwei große rote Legoplatten daneben. Zum Schluß holte er einen
Standbilderrahmen hervor und stellte ihn auf das Nachtkästchen neben das Bett.
Auf dem Bild war ein Junge zu sehen; vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Er
stand in einem blauen Fußballtrikot neben einem leeren Tor und hielt grinsend
einen Ball unter dem rechten Arm. Als er mit seiner Dekoration fertig war nahm
er beide Koffer und verstaute sie in einem Wandschrank neben der Tür.
Kaum war er fertig, klopfte es an der
Tür. Der Mann zuckte kurz zusammen, schloß die Augen und atmete langsam ein.
Anschließend ließ er einen prüfenden Blick durch das Zimmer schweifen, schien
mit dem, was er sah zufrieden zu sein, drehte sich zur Tür und sagte mit
leiser, belegter Stimme: „Komm rein.“ Ein Junge betrat das Zimmer, in der
rechten Hand eine braune Papiertüte.
„Scheiße Elena. In was hast du mich
hier reingeritten?“, Gesa verfluchte ihre Freundin und wünschte, sie hätte
dieses Hotel nie betreten. Es hätte ihr eigentlich klar sein müssen, dass
dieser Andrasch keinen Literaturkreis leitete oder Bridge-Abende veranstaltete.
Wie konnte sie nur so blauäugig sein? 250 Euro für zwei Stunden „zusehen“.
„Verdammt Gesa - du bist so naiv.“
„Hast du alles dabei?“, fragte der
Mann den Jungen. „Ja. Ist zwar nicht mein Lieblingsverein - aber ich muss ja
nicht draußen damit rumlaufen.“ Der Mann erwiderte „Nein. Das musst du nicht.
Ist es okay für dich wenn du es anziehst?“ „Klar. Wo soll ich mich umziehen?“
Der Mann deutete auf die Tür zum Badezimmer und fügte hinzu „Wenn du fertig
bist, vergiss nicht: du bist Leon. - Man
hat dir gesagt warum du da bist?“ Der Junge grinste und sagte „Yo. Ich bin
Leon. Und wir spielen ein wenig.“ Er ging ins Bad und zog die Tür hinter sich
zu. Der Mann drehte sich langsam um und blickte in den Spiegel hinter sich.
Gesa kam es vor, als ob er ihr direkt in die Augen sah. Doch sein Blick war
nicht fest, noch auffordernd - er wirkte kraftlos und ohne Halt - er schien
sich anzusehen - ohne sich wahrzunehmen.
Gesa rutschte nervös auf ihrem Stuhl
hin und her. „Wenn du den Jungen anfasst bin ich hier raus und schreie das ganze
Hotel zusammen.“
Die Badezimmertür öffnete sich und
der Junge trat ins Zimmer. Jetzt erst fiel Gesa die Ähnlichkeit des Jungen mit
dem Jungen auf dem Bild auf, welches der Mann auf das Nachtkästchen neben dem
Bett gestellt hatte. Er war etwas älter und größer, aber der Haarschnitt, das
hagere Gesicht, die engstehenden Augen und die helle, kaum gebräunte Haut
ließen einen flüchtigen Betrachter daran glauben, die gleiche Person zu sehen.
Das blaue Trikot, welches er sich im Badezimmer angezogen hatte, verstärkte den
Effekt. Der Blick des Mannes, der noch immer in den Spiegel sah, wandte sich
von seiner eigenen Person ab; und es schien Gesa, als ob er das Gleiche
erkannte.
„Hallo Leon. Wie war es in der
Schule?“ fragte er mit leicht gebrochener Stimme in den Raum hinein, während er
sich umdrehte und dem Jungen bedeutet sich auf das Bett zu setzen. „Ganz gut.“,
antwortete dieser und ließ sich auf die Matratze fallen. „Was habt ihr heute
gemacht?“ „Nichts Besonderes. Wir hatten Mathe und Deutsch. Und zwei Stunden
Sport.“ Der Mann, dessen Körper gerade noch leicht gekrümmt und zurückgenommen
war, richtete sich nun auf, er nahm die Hände vor die Brust, unterstrich seine
Worte gestenreich und verfiel in einen freudigen Plauderton. Dabei stimmte er
einen leichten Singsang an, und seine anfangs brüchige Stimme wurde mit jedem
Wort fester und akzentuierter. Gesa sah, wie der Junge und der Mann im Laufe
der Stunde gemeinsam Bilder auf dem Handy des Mannes ansahen, einen Turm aus
Legosteinen bauten und über die Schule, das Fussballtraining und andere
alltägliche Dinge sprachen. Manchmal stockte das Gespräch kurz, wie bei
Menschen die sich zwar immer wieder begegnen, flüchtig kennen, aber keine
gemeinsame verbindende Vergangenheit, oder - über ein solitäres Thema hinweg
geschaffene - Gemeinsamkeit besitzen. Beide vermochten aber, die künstlich
geschaffene Situation ohne einen Moment der Verlegenheit am Leben zu erhalten.
Gesa betrachtete das Geschehen, fasziniert vom Moment, getragen vom Spiel
beider Protagonisten, die um ihr Schauspiel wussten, aber in ihren Rollen
verharrten.
Dem Mann oblag es zu fragen - ohne
aufdringlich zu sein. Es schien, als zeige er echtes Interesse am Leben des
Jungen; als wolle er teilhaben an den großen und kleinen Problemen und Dingen,
die einen Tag ausfüllen können ohne ihn mit Bedeutung zu beschweren. Zwischen
dem Mann und dem Jungen entwickelte sich ein Spiel aus Worten und Gesten, das -
ohne Konkretes preiszugeben - ein Gefühl von Intimität erzeugte. Beide waren
Teile eines Kammerstücks, inszeniert, geschrieben und aufgeführt allein für den
Protagonisten selbst, beobachtet von einem unsichtbaren Publikum, dessen Reaktionen
weder relevant noch erwünscht waren. Hätten sich diese Szenen nicht in einem
Hotelzimmer, in einem künstlich geschaffenen Raum abgespielt, wären sie
lediglich ein Spiegel des banale Alltags, der sich so in tausenden von
Kinderzimmer des Landes wiederfände. Doch hier wurde das scheinbar Normale
zelebriert - etwas aus dem natürlichen Moment gerissen, in ein künstliches
Vakuum versetzt und mit unerfüllbaren Wünschen angereichert.
Ein lautes Klingeln riss alle drei
plötzlich aus der Szenerie. Der Junge griff in die Tasche seiner Trikothose und
sah auf sein Mobiltelefon. „Die Stunde ist um. Willst du verlängern?“ Der Mann,
der gerade noch lachend auf dem Boden gekniet war, Legosteine zu einem Turm
drapiert und Playmobil-Figuren aneinanderreihte hatte, sackte wie ausgeschaltet
zusammen. Ohne den Jungen anzusehen antwortete er tonlos: „Nein - Heute nicht.“
„Okay. Dann zieh ich mich jetzt um?“ Der Mann nickte. „Ja. mach das.“
Während sich der Junge im Badezimmer
umzog, holte der Mann einen verknitterten Briefumschlag aus seiner Hosentasche,
öffnete ihn, steckte zwei fünfzig Euro Noten hinein und legte ihn dann neben
das Bild auf den Nachttisch. Anschließend begann er die Spielsachen vor dem
Bett zu sammeln. Als der Junge aus dem Badezimmer zurück kam sagte der Mann:
„Hier ist dein Geld. Wenn du magst behalte das Trikot und komm nächste Woche
wieder.“ Der Junge überlegte, warf einen kurzen Blick in den Umschlag und sagte
dann „Klar. Nächste Woche. Gleiche Zeit - gleicher Ort?“
„Ja. Gleiche Zeit - gleicher Ort.“
Der Junge schob den Umschlag in seine
Gesäßtasche, grüßte mit einem bestätigenden Nicken und verließ das Zimmer. Der
Mann blieb regungslos in der Mitte des Zimmers stehen, nahm dann das Bild vom
Nachttisch, sank auf die Knie und begann zu weinen.
Gesa hatte sich die ganze Zeit über
nicht einen Millimeter bewegt. Sie saß mit leicht geöffnetem Mund auf der
anderen Seite des Spiegels und spürte wie ihre Hose schweißnass auf dem Polster
des Stuhls klebte. Sie wagte nicht aufzustehen. Sie sah, wie der Mann sich nach
langer Zeit schwerfällig erhob, sich die Tränen aus dem Gesicht wischte, die
Koffer aus dem Schrank nahm und jedes einzelne Teil liebevoll wieder an seinen
Platz zurücklegte. Sie wartete bis der Mann das Zimmer verlassen hatte, das
Licht löschte und die Tür schloss. Erst dann ging sie mit unsicheren Schritten
die schmale Treppe hinab. In der Lobby traf sie auf Andrasch, der gestenreich
telefonierte und sie zu sich winkte. Er drückte ihr ein paar Scheine und ihr
Handy in die Hand und fragte, ohne sein Telefonat zu unterbrechen, ob sie
nächste Woche wieder kommen wolle. Gesa bejahte abwesend verließ ohne ein
weiteres Wort das Hotel.
Sehr interessant und auch das Bühnenbild sieht gut aus, das erinnert mich ans Setting von meinem letzten Theaterstück - nur die typischen Bahama Schirme sind nicht dabei:)
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