KAPITEL 1

›Lonely Planet‹

PROLOG

Wenn wir es bestimmen könnten,
wir zählen würden,
ein Tag noch,
eine Stunde,
Minuten noch,
Sekunden...

Wenn es nach uns gehen würde,
wenn wir etwas zu sagen hätten,
eine Beichte,
ein Gebet noch,
ein Satz,
ein Wort,
ein Sagen noch...

Wenn es nach uns gehen würde,
wenn wir noch ganz bei Sinnen wären,
ein Atem mehr,
ein Schauen,
Hören,
Wühlen,
Fassen...

Ein Mehr noch,
und noch ein Mehr noch mehr,
Stück für Stück,
in Schritten kleiner und noch kleiner
hinein ins endlose Verschwinden.

Wenn es nur nach uns gehen würde,
wenn nur wir etwas zu sagen hätten.



___________________





München ist es. Der Innsbrucker Ring ist es. Fünf Uhr morgens ist. Arschkalt ist es. Und soweit ist das alles nicht richtig.

Es sollte keinen Innsbrucker Ring geben, nicht in München. Sondern einen Münchner Ring. Oder aber eben schon einen Innsbrucker Ring. In Innsbruck.

Es sollte auch nicht fünf Uhr sein. Es sollte eigentlich überhaupt nie fünf Uhr sein, denn fünf Uhr ist ja eine unnötige Zeit, die zwischen Nacht und Tag einfach blöde wegdämmert.

Und ihr Zwilling, zwölf Stunden früher oder zwölf Stunden später geboren, das lässt sich schwer sagen, ist auch kein Stück besser: ein Fetzen Zeit zwischen Tag und Nacht. Eigentlich nur gut zum Hungerhaben so ein „später Nachmittag“ oder „früher Abend“.

Züge sollten um 5 Uhr morgens überhaupt nirgendwo halten, sondern weiterfahren, bis dahin, wo es mindestens 6 Uhr ist. Denn um 5 Uhr morgens gibt es - wo auch immer - nur nichts, Schlaf und verrammelte Türen. Und wenn es doch Geräusche gibt und Schatten dann machen sie sich nur verdächtig, in den längst leergefegten und schon sauber gewischten Straßen.  

Es sollte auch überhaupt nicht arschkalt sein. Es ist ja schon lange Mai. Eigentlich sollte es auch deshalb nicht „arschkalt“ sein, weil es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass es im Wesen des Arsches liegt, kalt zu sein. Oder sind Ärsche besonders kalte Körperzonen? Wie ein großes Kühlaggregat gleich neben dem Reaktor aus Gedärm und Genital, das die Kernschmelze in der Mitte des Körpers verhindert?

Fünf Uhr-Gedanken sind das. Das Gehirn kapituliert und sagt sich „...und so weiter“.

Es war niemand da. Zumindest war niemand da, der sich über irgendetwas wundern durfte, um diese gottverlassene Zeit. Also die Hände schnell mal zwischen Hose und Haut geschoben, zur Prüfung von Wärme oder Kälte.

Mit beiden Händen am Hintern an einer Straße zu stehen, die falsch heißt oder in der falschen Stadt liegt, war merkwürdig. Weil ich mich nicht erinnern konnte, wann ich überhaupt je meine Rückseite eingehender betastet hatte. Und weil ich zu einem ganz anderen Zweck hergekommen war. 


Um 5 Uhr morgens, am Innsbrucker Ring, fummelte ich ungelenk an mir herum und drehte mich dabei im Kreis, wie ein Tier, das seinen eigenen Schwanz zu fangen versucht. Und tänzelte hinein in den bösen Blick aus zwei weit aufgerissenen Augen, die unvorhersehbar aus dem Graublau des Morgens stierten. Die Augen steckten im Kopf einer Alten, die einen Dackel an einer kurzen Leine führte, der mich seinerseits erwartungsvoll ansah.

Ich wollte versuchen, so zu tun, als würde ich die Rücktaschen meiner Hose nach Geldbeutel oder Schlüssel durchsuchen, und nicht meinen eigenen Arsch begrapschen, aber die Alte zerrte schon an ihrem Hund herum und trippelte weiter, 5 Uhr morgens, nicht Verwunderliches.
Ich ließ von mir ab und bedauerte eine Weile lang, dass der Hund nicht mehr da war. Er hätte Antworten gehabt. Hunde und Hinterteile sind ja durch ein Geheimwissen verbunden, eine für den Menschen ewig stille Post. 

5.10 Uhr, und so weiter.

Ich beschäftige mich übrigens eigentlich nicht viel mit meinem Körper. Weil ich das nicht muss. Weil nämlich alles an meinem Körper überdeutlich ist. Bedauerlicherweise nicht auf eine eindrucksvolle Art, sondern nur hervortretend und einfach, proletenhaft, in gewisser Weise. Anders gesagt: Jedes Teil meines Körpers ist laut. Wenn ich in den Spiegel sehe, dann ist es, als würde meine Nase laut rufen „Ich bin eine Nase“ und mein Kinn „Ich bin ein Kinn“ und mein Mund „Ich bin ein Mund“, und irgendwo dahinter ruft die Zunge ihren Namen in die feuchte Dunkelheit, und meine lauten Ohren müssen sich all das anhören, Tag für Tag. 
Man kann es auch so sehen: Mein Äußeres ist eine grobe Kinderzeichnung, die man wohlwollend anschaut und sagt, „Ja, so sieht ein Mensch aus“, obwohl es meistens gar nicht stimmt, weil kein Mensch aus ein paar Strichen und Kreisen besteht, außer mir. Ob das hier von Interesse ist, weiß ich nicht, aber das waren meine Einsichten bis 5.45 Uhr, und so weiter. 


Dann war mein Körper erschöpft, thematisch, aber es blieb noch eine gute Strecke Zeit. Der Geist muss etwas denken, auch um Viertel vor Sechs am Morgen und so versuchte ich es mit der Frage, wie, verdammt, ich hier gelandet war, aber das wusste ich eigentlich schon. Ich will hier ganz ehrlich sein, ich musste seinerzeit mein Geld sehr zusammenhalten und ein Nachtzug aus Kopenhagen, billig wegen seiner unerträglichen Ankunftszeit, war dazu ein gutes Mittel. 



Ich war gut vorbereitet zu meiner Reise aufgebrochen, mit fünf Flaschen Bier und zwei Tüten Chips und einer Tüte von einem Fast Food-Stand am Hovedbanegård und einem Laptop, auf das ich hastig einige Filme geladen hatte, zum großen Teil B-Movies aus den Neunzigern, weil die erschwinglich waren und weil ich den Gedanken an die nächste, ferne Zigarette zu verdrängen hatte. Einer der Filme drehte sich, wenn ich mich richtig erinnere, um eine Psychopathin, die sich in eine Filmpremiere schmuggelt, um den Protagonisten zu töten, ein anderer um einen tödlich herzkranken Mann, der sein Bewusstsein irgendwo in der nahen Zukunft auf eine Festplatte bannen lässt, beides ging sich nicht gut aus, wie sich denken lässt, und war auch nicht besonders gut gemacht, trotzdem glotzte und fraß ich mich über Stunden durch meinen trostlosen Reiseproviant, bis Körper und Geist nur noch Blähung waren. 



Und während ich mich selbst demütigte, blickte ich hin und wieder hinüber, dorthin, wo eine hoffnungslos schöne junge Frau saß, die einzige Mitreisende in meinem Abteil. Und in all den Stunden, in der ich mich wissentlich und freiwillig in eine Müllkippe verwandelte, tat sie nichts weiter, als in einem dicken Buch zu lesen und hin und wieder einen bescheidenen Schluck Wasser zu trinken. Mit wachsender Scham suchte ich Trost in dem Gedanken, dass ich nur eine vorübergehende Erscheinung war, als Mensch und als Mann, bevor ich in eine Abart von Schlaf fiel. Ob das eine frühe oder späte Erkenntnis war, ist offen, denn es ging auf fünf Uhr zu.             

So also war ich hergekommen, nach München, und weiter zum Innsbrucker Ring, weil sonst nichts zu tun blieb, zwei Stunden früher als es sein musste.

Viel wichtiger als das „Wie“ meiner Reise ist sicher das „Warum“. Hier wird es allerdings komplizierter, denn das betrifft die Sache mit Hans Weil.
Ich weiß selbst nicht allzu viel. Wer gelesen hat, was ich über den großen Hans Weil in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geschrieben habe, der erinnert sich vielleicht, dass ich Hans Weil darin als meinen Freund bezeichnet habe. Das heißt aber nicht, ich würde deshalb Details kennen, über diese merkwürdige Sache, die Anderen vielleicht vorenthalten wurden, Dinge, die ich, hier ganz im Vertrauen, darlegen könnte.

Tatsächlich aber kann ich auch nicht viel mehr sagen, über die plötzlichen Gründe und ganz und gar seltsamen Umstände, die das Verschwinden des großen Hans Weil bedingt haben mögen. Hans Weil war verschwunden, und auch ich wusste nicht, warum oder wohin.

Wahrscheinlich bin ich allen Anderen nur in einem Punkt ein Stück voraus: Ich gehörte nämlich wohl zu den Ersten, die erfuhren, dass man Hans Weil, den vielleicht mächtigsten Fürsprecher Aller, die in die diesem Land noch nachdachten, schließlich für tot hielt.

Nun ist es so: Um in unserem Land ordentlich und rechtmäßig zu sterben, muss man, neben einiger anderer Formalitäten, eigentlich einen leblosen Körper hinterlassen. Oder aber sich für wenigstens 10 Jahre sehr, sehr still verhalten.

Nun war Hans Weil, wie viele wissen, im Leben kein besonders obrigkeitshöriger Mensch gewesen. Das Protokoll spielte also auch danach für ihn keine Rolle.  

Die Belange, unter denen man meinen Freund Hans für tot erachtete, betrafen vor allem seine Wohnsituation im Münchner Osten. Nach fünf langen Monaten, in denen die Mietzahlungen ausgeblieben waren und keine Lebenszeichen mehr aus der Wohnung am Innsbrucker Ring 85 drangen, hatte die Hausverwaltung beschlossen, dass es einen Hans Weil wohl nicht mehr gab. Man hatte sich Zugang zur Wohnung verschafft, aber hier weder einen lebendigen noch toten Hans Weil aufgefunden, und so unscharf konnte dieser Zustand natürlich nicht bleiben.

Ich weiß bis heute nicht, wie man ausgerechnet mich hatte ausfindig machen können. Man hatte aber wohl sonst keinen Menschen auftreiben können, der Hans Weil nähergestanden hatte, als ich. Das machte mich ein wenig stolz, und zugleich sehr traurig.

Jedenfalls hatte man mich nachdrücklich gebeten, den Nachlass des Verschwundenen am Innsbrucker Ring zu sichten und ggfs. Verwertbares in meine Obhut zu nehmen.

Das war bestimmt kein ganz korrekter Vorgang. Aber Wohnraum in München ist wie das Bernstein-Zimmer, wertvoll und schier unauffindbar, wenig Platz für juristische Befindlichkeiten.  

Die Nachricht über meine Aufgabe hatte mich auf dem Postweg und in Kopenhagen erreicht. Und obwohl schon einige Zeit vergangen war, seit ich ein letztes gedrucktes Lebenszeichen von Hans Weil empfangen hatte, und ich längst in der Gewissheit an ihn dachte, ihn nie wieder zu sehen, hatte ich nach dem Empfang des besagten Schreibens eine halbe Flasche Gin geleert. Und ich schäme mich nicht, zu gestehen, dass ich dabei kurz und aufrichtig weinte.

Wie ich schon erwähnte, war ich ungemein früh an der Wohnung meines verschwundenen Freundes eingetroffen. Die streng frisierte Vertreterin der Hausverwaltung, die fünf Minuten vor Sieben, und damit fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit, eintraf, offerierte mir dennoch einen besonders frostigen Begrüßung, als wäre sie es gewesen, und nicht ich, die an diesem merkwürdig kalten Mai-Morgen zwei Stunden mit der Zeit gerungen hatte. Händeschütteln und so weiter, 7:00 Uhr.

Bevor wir in das dunkle Treppenhaus eintraten, in dessen zweiten Stock Hans Weils Wohnung lag, sog ich noch ein paar Züge des lauernden Frühlings in die Nase, dessen Geruch ein noch kalter Regen jetzt aus dem Boden trommelte. Schlüsselblumenzeit.


Auf dem Absatz drückte meine stumme Begleiterin die Klinke zur Wohnungstür herunter, erst langsam, dann mit einem schellen Ruck. Mit einem schneidenden Pfeifen meldete die Tür zu Hans Wohnung, dass sie ins Leere schwang. Der dahinter liegende Raum nahm den ruckartigen Atemzug eines jäh erwachten Schläfers, sog dabei das harte Schnalzen des Schlosses ein, kaute eine kurze Weile auf dem unangenehmen Geräusch herum und spuckte es schließlich durch sein weit geöffnetes Maul zurück in das noch düstere Treppenhaus mit seinen lauten Stufen.

Schon der haltlose Klang machte mir, klar, dass dies nicht die Wohnung meines Kollegen und Freundes war, die ich so gut kannte, noch bevor meine Augen im trüben Licht Genaueres ausmachen konnten. Nichts klang mehr nach der Agoraphobie eines manischen Sammlers von Dingen. Da schien nichts zu sein zwischen diesen Wänden, das die Geräusche unseres Eintretens hätte verschlucken können, schlimme Leere und der scharfe, warme Geruch versiegelter Orte.

Der Blick musste dann auch lange umherschweifen, bis er auf etwas traf, an dem er etwas Halt finden konnte. Das, was einmal die Wohnhöhle eines großen Bewahrers gewesen war, war jetzt bestenfalls die Idee einer Lebensstatt, sie war so etwas wie ein „Urbild“ von Wohnlichkeit.

Alles war vorhanden, das schon. Aber vorhanden eben nur in einer grundsätzlichen, klaren Form, platonisch: ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, alles hölzern, gerade und schnörkellos. Hinter der geöffneten Tür zum Schlafzimmer, gerade noch zu erkennen, eine Matratze, ohne Gestell, eine sauber gefaltete Militärdecke an ihrem Fußende, aus der Schweiz, wie das aufgeprägte Wappen verriet, kein Kopfkissen.

Von den Decken der apathischen Räume hingen nackte Glühbirnen, das Glas überzogen von einem bräunlichen Film - eine leuchtende Erinnerung an Hans aberwitzige Raucherei, unterlegt mit dem Basston kalten Tabakgeruchs, der noch die Luft verklebte. Ein Lebenszeichen in dieser Gruft, aber ein völlig verdrehtes.  

Der einzige wärmende Anblick in diesem tristen Panorama waren die in vielen Farben auslaufenden Lichtflecken, die die noch kalte Sonne durch die bunt verglasten Oberlichter auf den hellen Holzboden malte. In der Andacht, in der die ganze Wohnung verharrte, strahlten diese Leuchtspuren Heiligkeit aus, und ich wollte nicht in sie treten, sondern umging sie umständlich, auf meinem Weg zur Küche.

Hans' Vermieterin machte keine Anstalten, sich an meiner Spurensuche zu beteiligen. Sie hatte genau den Punkt innerhalb der Wohnung gefunden, der von allen von Hans spärlichen Überbleibseln am weitesten entfernt war. Wahrscheinlich rechnete sie bereits an Quadratmeterpreisen herum.

Hans war nie ein großer Koch gewesen, dennoch hatte sich seine Küche nie so unbelebt gezeigt, wie jetzt. In den Zeiten, in denen ich hier regelmäßig ein- und ausgegangen war, hatte es nie an leeren Pizzakartons und Aluminiumverpackungen gefehlt, natürlich randvoll mit Zigarettenkippen. Sie waren nicht da. 

Auch gab es das breite Orgelregister aus Wein- und Ginflaschen nicht mehr, das hier früher an jedem Tag neu gestimmt wurde, vom Hohepriester „Don Promillo“, wie Hans sich selbst gern nannte. 


Meine Hoffnung, vielleicht im Kühlschrank Anhaltspunkte zum Zeitpunkt des Verschwindens von Hans Weil finden zu können, löste sich in seinem einfarbigen Innenleben schnell auf. Ich fand ausschließlich Orangenlimonade, abgefüllt in aufreizend taillierte Flaschen, an deren Brustkorb Glaspocken Halt geben sollen. Sauber aufeinandergereiht ließ sich ihre ungefähre Zahl gut überblicken: etwa 20 in der Horizontalen, eine weitere in der Kühlschranktür, halb geleert, die Kohlensäure hatte sich in Luft aufgelöst, aber was hieß das schon.

Nur der Vollständigkeit halber öffnete ich die Küchenschränke, einen nach dem anderen. Die Bestandsaufnahme ergab: ein dickwandiges Glas ohne Stiel, eine Gabel, ein Messer, ein tiefer Emaille-Teller, ein Löffel, ein kleiner Topf, ein Dosenöffner – und der hatte wohl eine besonders herausragende Funktion gehabt, denn außer den genannten Objekten fand ich lediglich, aufgestapelt wie auf einem Jahrmarkt, ein knappes Dutzend Dosen „Königsberger Klopse“, haltbar für noch ein gutes Jahr, auch das hatte nichts zu bedeuten, außer vielleicht, dass Hans Weil am Ende seines Lebens vom unkritischen zum unvernünftigen Esser geworden war.




Ein Bad gab es nicht zu inspizieren. Die Toilette lag am Treppenabsatz zu gemeinsamer Nutzung mehrerer Mietparteien. Für die Körperpflege hatte man eine ausziehbare Wirtschaftswunder-Badewanne unter der Spüle der Küche installiert, die große Schublade war mit einer bunten Laubsägearbeit gekennzeichnet, die eine Maus zeigte, die auf einem Papierboot über eine Pfütze segelte...den Dusch-Schlauch konnte man im Bedarfsfall an den Wasserhahn anschließen. Das alles war wohl seit Kriegsende durch die Zeit gereist und versprühte deshalb den Charme der Berliner Wendejahre, ich glaube, Hans schätze genau das an seinem Domizil, München hatte er immer eher als Makel empfunden.

Dann begann etwas an meinen ratlosen Gedanken herum zu zupfen, bis ich mir tatsächlich und buchstäblich an die Stirn schlagen musste. Dass mir diese Sache zunächst entgangen war, kann ich mir nur so erklären, dass ich mich in der Leere der Wohnung so fremd fühlte, dass ich den wichtigsten, den eigentlichen Grund meines Kommens, schüchtern an der Türschwelle abgegeben hatte wie einen Mantel.

Ich brauchte nur drei große, schnelle Schritte zurück ins Wohnzimmer, die geduldig wartende Bevollmächtigte der Hausverwaltung schreckte kurz aus ihren undurchsichtigen Tagträumen auf und beobachtete mein verzweifeltes Schauen mit mäßigem Interesse.

Der Block PS-100+ war noch da. Ein angemessener Plattenspieler, kein respektloser 1210er-Turntable. Den aber hatte ich gar nicht gesucht.

Die deckenhohen Regale aber, die das Wohnzimmer fast hermetisch einfassten, waren leer, bis auf eine dicke Schicht Staub, in der noch kleine Rillen zu erkennen waren, dort, wo die abertausenden von Schallplatten gestanden hatten, die zusammen eine Sammlung gebildet hatten, die in ihrer Art einzigartig gewesen ist. Ich bringe es nicht über das Herz, auch nur einige wenige Beispiele zu nennen, für die sagenhaften Schätze, die diese Wunderkammer einmal beherbergt hatte.

In diesem Raum hatte ein kollektives Menschheitsgedächtnis seinen Platz gehabt, und ich erinnere mich gut an die Rückgrate einiger Platten, über die ich immer wieder gestrichen hatte, wie über den Rücken einer heimlichen Geliebten. Ich hatte selbst eine beachtliche Sammlung angelegt über die Jahre, doch im Vergleich zu Hans war ich ein dummer Schüler, was ich zusammengetragen hatte, war eine schlecht geschriebene Ouvertüre, vielleicht auch nur ein Orchesterstimmen vor dem ersten Takt einer Sinfonie. 

Welchen Frevel hatte Hans Weil an seiner eigenen Kirche begangen? Im Blick auf die leeren Regalfächer gewann die Erkenntnis die Oberhand, dass mein Freund wirklich sein Leben verloren haben musste. Und kurz zuvor ganz ohne Zweifel auch den Verstand.

Wie zum Hohn, wie ein Geldstück, das nach einem gelungenen Bankraub zurück bleibt, lehnte eine einzige Schallplatte an der Innenwand des Regals, das für die Kategorie „Jazz“ reserviert gewesen war.

Ich war mit dieser beispiellosen Aufnahme so vertraut, und bin es noch heute, dass ich sie schon quer über den Raum sofort erkennen konnte.

„Giant Steps“. John Coltrane. Atlantic Records. 1960. Mono-Version und, natürlich, die Erstpressung. Tommy Flanagan, Klavier, Paul Chambers, Bass, Art Taylor, Schlagzeug.

Auf dem schlichten Cover, der Hexenmeister selbst, in hellgrauem Sakko und entrückter Präsenz, darüber in kapitalen Serifen sein Name und der Name dieser großen, seiner besten Einspielung, beides in Rot, dazwischen das Label geprägt, „Atlantic Records“, ein Ozean zwischen den beiden Schriftzügen, voneinander getrennt durch den großen Teich, den nur ein riesiger Schritt überspannen kann – so sah ich das, auch wenn ich nicht weiß, ob diese Feinheit der Gestaltung nicht einfach nur Zufall war.



Ich nahm die Schallplatte aus dem Regal. Und bemerkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Obwohl es sich um eine so wertvolle Pressung handelte, hatte jemand auf ihrer Rückseite herumgekritzelt, genaugenommen waren die Titel der Stücke in verschiedenen Farben ausgestrichen worden. Es schien, als habe dieser Vorgang eine längere Weile und deshalb auch verschiedene Stifte in Anspruch genommen. Nur ein einziger Titel war unberührt geblieben, Nr. 6, „Naima“, den Coltrane für seine erste Frau geschrieben und gleich mehrfach eingespielt hatte, so verliebt war er.

Für einen Augenblick war mir so, als stünde jemand unangenehm nah, als würde mich jemand beinahe berühren, über meine Schultern blicken und in meinen Nacken blasen.

Ich zog meine Jacke zu, dann den schwarzen Kunststoff aus seiner wattierten Hülle. Verständnislos sah ich, dass sich das auf der Hülle begonnene, zerstörerische Werk hier fortsetzte.

In der Dämmerung des Zimmers waren sie gut zu erkennen, die spitzen „X“, akkurat spiralförmig in das Vinyl gesetzt, um jedes Abspielen vollkommen unmöglich zu machen. Nur eine einzige Spur war frei geblieben – und es lässt sich leicht denken, welche das war.

„Naima“ hatte für mich immer eine besondere Bedeutung gehabt. Besonders, weil es eben auch für Hans Weil eine besondere Bedeutung gehabt hatte.

Das ganze Album gehörte zu den wenigen Aufnahmen, zu denen Hans und ich so gut wie nie sprachen, was für Musikkritiker besonders bemerkenswert ist. „Giant Steps“ aber lag jenseits von Kritik und Analysen und Dingen, die man sagen konnte.

Ich erinnere mich aber an einen von Gin und Schwermut erfüllten Abend, an dem wir, zum unzähligen Mal unsere gemeinsame musikalische Andacht mit Coltranes Meisterstück beendeten, und Hans nach den ersten Takten von „Naima“ zu einem kurzen, merkwürdig abwesenden Monolog ansetzte.

Einmal mehr muss ich etwas enttäuschen, ich kann beim besten Willen keine Einzelheiten dazu nennen. An eine Sache aber erinnere ich mich sehr gut. Hans hatte gesagt, „Naima“ sei nichts anderes als eine tiefschwarze Antwort auf Pachelbels „Canon e Gigue“. Genau wie es dort die schonungslos schreitenden und sanft wiegenden, ätherischen Violinen tun, war es hier Coltranes einzigartig warmes, zerstörerisches Saxophon, dass der Zeit ein Schlaflied sang, als wollte es sie an einen Moment fesseln, als wollte es die Zeit bitten, von ihrem teilnahmslosen Vergehen abzulassen.

Etwas in dieser Art war es gewesen, was er gesagt hatte. Sowas konnte Hans Weil, Worte wie aus Glas, schimmernd, zerbrechlich und klar, und wenn man die Augen schloss, konnte man die Scherben auf der Zunge spüren.   


Während ich die Platte zurück in ihre Schlafstätte legte, fiel mein Blick auf die einzige Wand des Raumes, die nicht ganz und gar Regal war. Ich war zunächst erstaunt, dass die Reduktion, der Hans seine Wohnung unterzogen hatte, hier eine gnädige Ausnahme gemacht hatte. Die großformatige Schwarz-Weiß-Fotografie, die hier immer noch hing, zwischen vielen weißen Rechtecken auf der vergilbten Tapete, kannte ich fast so gut, wie die geschändete Schallplatte, die jetzt wieder an ihrem angestammten Platz ruhen konnte.

Aufgenommen am Feiertagswochenende vor dem 4. Juli 1938, zeigt das Foto eine Strandszene in Coney Island, einen überfüllten Strand, eingefangen in atemberaubender Klarheit, jedes Detail messerscharf, was all die toten Menschen darauf fürchterlich lebendig werden lässt, wenn man nah herantritt und versucht, aus den vielen Gesicherten Geschichten herauszulesen. Mit viel Mühen hatte Hans den vergrößerten Abzug vor einigen Jahren aus den Beständen des Ullstein Verlags bezogen. 


Trotz einiger Anstrengungen war es uns leider nie gelungen, herauszufinden, wer dieses bemerkenswerte Foto an diesem diesigen Sommertag aufgenommen hatte. Sicher war nur, dass er erhöht und wohl auf einer Leiter gestanden haben musste, wie auch immer er sie im weichen Sand aufgestellt hatte. Er hätte auch auf einen der vielen Holztürme klettern können, auf denen die New Yorker Rettungsschwimmer ihren Dienst taten. Aber dann wäre nicht zu erklären, warum so viele der eingefangenen Badegäste den Betrachter unmittelbar anblicken, nicht überrascht, sondern erwartungsvoll.

All diese Menschen sehen ohne Ausnahme glücklich aus, auf der Aufnahme lachen und winken sie in ihren züchtigen Badeanzügen, herausgeputzt für die Sommerfrische vor der Stadt, Junge und Alte, ein Moment, selten wie die Ewigkeit. 

Es schien allerdings, dass Staub, kalter Rauch und Dunkelheit dem Bild sehr zusetzten, jedenfalls waren die Details seltsam verschwommen. Um sicher zu gehen, dass alle noch an ihrem Platz waren und meine Müdigkeit den New Yorker Sonnentag nicht eintrübte, trat ich näher heran an Wasser und die fröhlichen Menschen, und mir wurde noch eine Spur kälter, als ich erkannte, dass die vielen Gesichter am Strand aus gutem Grund nicht mehr zu erkennen waren. 

Es musste die gleiche Hand gewesen sein, die den Zensurstift an Coltrane angelegt hatte, jedenfalls waren die Köpfe der Badenden mit sauberen, schwarzen Filzstiftkreisen unkenntlich gemacht worden, ausgelöscht – mit einer eine einzige Ausnahme: Das junge, schwarzhaarige Mädchen am rechten unteren Bildrand, das eine jetzt gesichtslose Gestalt an der Hand hielt und mit konzentriertem, wachem Blick auf den Betrachter schaute. Wenn man sich schon entscheiden musste, zwischen all den namenlosen Gesichtern, war das eine hervorragende Wahl, dachte ich. 

Ich hatte jetzt keine Einwände mehr, dem Vorschlag meiner Begleiterin zu folgen, auch noch den Keller zu inspizieren.

Ich will hier nicht langweilen, mit Dingen, die man längst ahnen kann, ja, dort unten, in dem mit Latten abgetrennten, feuchten Abteil des Kellers, das Hans Weil zugesprochen worden war, fand ich sie, die Kisten, randvoll gefüllt mit Schallplatten, eine fast nahtlose Wand bildeten sie, in ihrem Inneren nichts weiter als endlose Kopien der systematischen Vernichtung, die ich schon in der Wohnung vorgefunden hatte, jede Platte gewissenhaft unhörbar gemacht. Ich hatte kaum etwas anderes erwartet.

Ein ganzes Leben zusammengestrichen. Hans Weil war verblichen, im allerengsten Sinne des Wortes, freiwillig auf Endpunkte geschrumpft. Und seine Gründe mit ihm.  

Als ich die Tür des Abteils schon resigniert schließen wollte, fiel mir noch ein Karton ins Auge, dessen Format nicht zu den übrigen passte, er war etwas zu klein. Mit einem Kugelschreiber war das Wort „Geschriebenes“ darauf vermerkt worden. Der Inhalt war überraschend unversehrt.

Es war Hans Handschrift, ich kannte sie, die sich hier über etwa 40 Seiten zog, und nach flüchtigem Überlesen wusste ich, was diese Manuskripte umfassten. 

Es war zum einen ein Buchprojekt, an dem mein Freund, wohl etwas ermüdet von seiner sonstigen Tätigkeit, gearbeitet hatte, ich wusste in groben Zügen, worum sich die Handlung drehen sollten. 



Die Geschichte, die ein Roman werden sollte, hatte den Arbeitstitel „Alle Welt“ getragen, und sollte, wenn ich mich richtig erinnere, von zwei Kleinkriminellen handeln, die sich auf das Ausrauben von „Lonely Planet“-Touristen spezialisiert hatten, da diese nach Hans‘ Ermessen besonders blöd und unvorsichtig waren – ich war hier ganz seiner Meinung. So sollten die beiden Titelhelden den Planeten bereisen, viel Stoff für launische Beschreibungen von Land und Leuten bot das allemal, das zeigten schon die ersten Zeilen, die wie folgt lauteten: 




 „Riobamba ist ein Ort, den man sich vorstellen sollte wie das Maul eines harten Säufers, der die Lotterie gewonnen hat – voller Lücken und Fäulnis, aber jeder Stumpf fein poliert und mit Gold überzogen. Der Zug fährt an und, tatsächlich, da steht ein Lama, und es glotzt und kaut für all die Trottel auf ihrem Weg rund um dem Berg und hinauf zu Ushca, dem letzten Eismann des großen Chimborazo, der zahnlos Tag um Tag seine Geschichte widerkäut, weil es genau so im Reiseführer steht und die Grenze zwischen Großzügigkeit und Dummheit in der dünnen Höhenluft verschwimmt, Schein um Schein. Fette Beute.“   


Das zweite Textfragment war deutlich weniger geradlinig und verständlich. Kleine Papiermarken ragten überall aus dem Stapel welliger Seiten, Notizzettel waren mit Büroklammern rund um ihre Kanten gruppiert. Immer wieder erkannte ich den gleichmäßigen Schreibschwung, der Hans Weil auszeichnete, aber es waren auch andere Schreiber zu erkennen. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was ich hier vor mir hatte. Es handelte sich anscheinend um eine umfangreiche Briefsammlung, und ich vermutete, dass diese eher zufällig in Hans‘ Besitz geraten war, denn ich konnte keine der Adressaten mit meinem Freund in irgendeine Verbindung bringen. 

Auch wiesen alle Briefe, Post- und Glückwunschkarten ganz ähnliche Spuren der Vernachlässigung auf – krustige Schlammspuren zogen sich über die Seiten. Das wichtigste Indiz für einen Zufallsfunds aber war, dass die Korrespondenz „vollständig“ war. Ich meine damit, dass hier jeweils beide Enden des Briefwechsels vorhanden waren – so wie man das von berühmten historischen Persönlichkeiten kennt. Aber: eine Gisela Brenner, die den Schnittpunkt in der Unmenge von Postsachen bildete, war mir weder damals noch heute in solchen Zusammenhängen begegnet.

Ein ganzes Leben lag hier abgeheftet, das sah ich schnell, und niemand sollte so einen Schatz besitzen, und deshalb wollte ihn unbedingt haben.

Der Karton passte gut unter meinen Arm. Und dort blieb er, bis ich in der Wärme eines voll erblühten großen Mai-Nachmittags den Zug nach Norden bestieg.

Einen Tag später schrieb ich einen knappen Brief an die Hausverwaltung, mit dem Inhalt, dass ich kein Interesse hätte, an auch nur einem einzigen Gegenstand, der in Hans Weils Wohnung zurückgeblieben war. Sollten sich andere darum kümmern. 

Die Karton verschwieg ich. Er gehörte jetzt niemandem mehr.
Eine Antwort von der Hausverwaltung des Innsbrucker Rings 85 habe ich nie erhalten.

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